Am Wochenende hatte ich eine kurze Korrespondenz mit einem Freund in den USA. Es ging um die (Selbst-)Zweifel an der eigenen politischen Wirksamkeit. Welche Aktivität hat (noch) welchen Sinn? Bei Herren reiferen Alters sind das berechtigte Überlegungen. Und Rezepte können hier nicht geliefert werden. Mann sollte nicht nur selber kochen, sondern auch die Rezepte gemäss den eigenen Neigungen und Fähigkeiten lieber selbst kreieren, statt irgendwelchen Meistern zu folgen. Bei dieser Suche helfen, wie hier z.B. die Kolleg*inn*en von oxiblog, wäre ein realistischer Anspruch. Mehr ist nicht drin, aber weniger sollte es auch nicht sein.
Nehmen wir mal die tunesische Perspektive. Mein Fußball-Gastwirt Kamel Bsissa ist tunesischer Herkunft. Ein Künstler seiner Zunft, pflegt er doch eine total heterogene Kundschaft auf engstem Raum, und alle halten es bei ihm miteinander aus. Seine herzlich-rustikale Ehrlichkeit erleichtert ihm die Ausführung seines soziokulturellen Kunsthandwerks. Käme ich auf die Idee, von ihm auf Tunesien zu schliessen? Lange wusste ich gar nicht, dass er familiär diese Herkunft hat, war und ist ja auch egal. Ein (oder vielleicht auch mehrere) tunesisches Terroristenarschloch, mutmassliches muss man immer noch schreiben, reicht allerdings aus, Tunesien nachhaltig wirtschaftlich zu ruinieren, Bundesregierung und die meisten deutschen Medien assistieren dabei. Der tunesische Autor Sadem Jebali beschreibt in der taz, dass sie gerade damit das Geschäft und die Rekrutierung des Terrorismus besorgen. Nur so nebenbei tragen sie natürlich auch nicht zur Aufklärung bei, inwieweit der mutmassliche Massenmörder von unseren Geheimdiensten schon infiltriert war, wer während seiner mehrmonatigen Überwachung welche Kontakte welchen Inhalts pflegte. Das soll wohl erst offengelegt werden, nachdem wichtige Politikentscheidungen zugunsten der sog. Sicherheitsbehörden bereits gefallen sind. Vertrauen schaffen geht anders.
Update: Die tunesische Perspektive erklärte heute Abend im Deutschlandfunk der deutsche Politikwissenschaftler Werner Ruf.
In der Türkei sieht es in vielem noch schlechter aus. Ömer Erzeren beschreibt Erdogans Macht im Abstieg. Das wirkt paradox. Die hemmungslose, ja panische Machtversessenheit sei ein Symptom ebendieses Abstieges. Der Präsident demoliert seine Herrschaftsapparate und macht sie damit für seine Herrscherperspektive selbst nutzlos. Ergebnis ist eine immer heillosere Zerstörung des Landes.
Update: wie treffend Erzerens Hypothese sein könnte, illustrieren einen Tag später Berichte über die aktuellen türkischen Wirtschaftsdaten.
Ein Symptom dafür ist die grassierende kulturelle Verödung des Istanbuler Szeneviertels Beyoglu. Ich war vor rund 10 Jahren einmal dort, leider nur für 24 Stunden. Auf Schlafen habe ich damals lieber verzichtet, ich hätte zu viel verpasst. In meinem Lebensgedächtnis haben diese 24 Stunden Beyoglu Denkmalsschutz; in Istanbuls Gentrifizierung ist der dagegen nicht vorgesehen.
Die US-amerikanischen Autoren Nick Srnicek und Alex Williams haben ein Buch für die globale Linke in den kommenden Trump-Jahren geschrieben: “Die Zukunft erfinden”. Und Timothy Snyder einige Verhaltensregeln für zukünftiges individuelles Verhalten/Engagement; da sein Text nicht online steht, muss man sich mit Arno Widmanns Besprechung in der FR behelfen.
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