Auf der Innenausschußsitzung des Nordrhein-Westfälischen Landtages ruhten in dieser Woche die Augen und Kameras der Öffentlichkeit. Was NRW-Innenminister Jäger zu berichten hatte, war ein Flop: Der Staat sei, so Jäger, an die Grenzen der Rechtstaatlichkeit bei der Überwachung von Anis Amris gegangen. Man reibt sich verwundert die Augen: Wie kann ein Nichtjurist zu einer solchen Bewertung kommen? Wer hat ihm das aufgeschrieben – seine Polizeiabteilung? Die Ausländerabteilung? Das Ministerbüro? Die Pressestelle?
Das Asyl- und Ausländerrecht hätte es zweifelsfrei ermöglicht, durch ein Gericht im Falle Amri bis zu 18 Monate Abschiebehaft zu verhängen. Warum ist dies vom Kreis Kleve oder vom Landeskriminalamt nicht einmal beantragt worden, nachdem er sieben mal im Arbeitsstab der Innenminister von Bund und Ländern als gefährlicher Gefährder erörtert worden war und vor der Abschiebung stand? Auch Meldeauflagen, nach denen er sich in Kleve hätte jeden Vormittag bei der Ortspolizei melden müssen, wären jederzeit möglich und verhältnismäßig gewesen. Auch sie wurden nicht erlassen. Noch nicht einmal von der Ausländerbehörde beantragt. Erklärungen hierzu hat Ralf Jäger nicht gliefert.
Warum wurde beides nicht beantragt und verhängt? Wie kann es sein, dass der in Kleve residenzpflichtige unter Terrorverdacht und als versuchter Waffenkäufer stehende Amri sich bundesweit bewegen und der polizeilichen Überwachung entziehen, ja sogar in die Schweiz ausreisen konnte? Haben etwa NRW-Behörden wie das Landeskriminalamt darauf gedrungen, dass ein “Auge zugedrückt” wurde, weil man ihn dort oder von anderen Landesämtern weiter beobachten wollte? Wie dicht wurde er von Berliner Landesbehörden beobachtet? Von welchen – LKA, Verfassungschutz – und mit welchen Mitteln? Gab es gegen ihn physische Beobachtungen durch Polizeibeamte oder Verfassungsschützer? Gab es eine Telefonüberwachungsmaßnahme oder Handyortung? Gab es in Berlin eine G-10 Maßnahme, Telefonüberwachung durch den Verfassungsschutz? Gab es eine engmaschige Kommunikation darüber zwischen NRW und Berlin oder wusste die linke nicht, was die rechte tut? Im ersteren Fall hätten wir es mit einer Fahndungspanne zu tun, im zweiten Fall mit Behördenschlamperei – beides wäre der größte anzunehmende Unfall.
Auf alle diese Fragen hat Ralf Jäger im Landtag keine Antworten gegeben. Der Fall Amri wird immer klarer zum Beispiel dafür, dass wir keine neuen Gesetze brauchen, solange die bestehenden nicht einmal angewendet werden. Jägers Interpretation, Amri sei “nur formal” in Kleve gemeldet gewesen, ist wohl der dreisteste Versuch, die Öffentlichkeit zu täuschen, den ein Innenminister seit Friedrich (Ede) Zimmermann (CSU) unternommen hat. Wo bitteschön hat sich ein durchschnittlicher Flüchtling anders aufzuhalten, als dort, wo er gemeldet ist? Wie kann ein Innenminister behaupten, der sei da “nur formal” ansässig gewesen? Sind etwa tausende von Hartz-IV-Empfängern auch nur “formal” an ihrem Wohnsitz gemeldet und müssen “nur formal” Arbeitsangebote der Bundesagentur für Arbeit annehmen? Muss ich als Selbständiger auch “nur formal” an meinem Wohnsitz Steuern zahlen – könnte ich das nach Auffassung von Ralf Jäger auch in Berlin oder in irgendwelchen Steueroasen?
Was zum Teufel zeigt damit ein Innenminister für eine Auffassung von Recht und Gesetz, der in NRW auch Verfassungsminister ist? Wieso gilt für den afghanischen Flüchtling, den ein guter Freund von mir betreut, dessen Asylverfahren noch läuft und der seinen Lebensunterhalt in einem Job selbst verdient, Residenzpflicht, sodass er sich sogar seine Fahrt zur Bundesagentur für Arbeit nach Köln genehmigen lassen muss, während ein vielfacher Straftäter, bekannter Gefährder und Erschleicher sozialer Leistungen bundesweit nach Gutdünken reisen darf? Welches angewandte Recht kann das Ausländer- und Asylrecht so verbiegen und umgehen, dass Amri das tun kann, was er tat? Wer verschafft einem als Gefährder erkannten, rechtskräftig abgelehnten Asylantragsteller eine derartige Handlungsfreiheit? Versagen der NRW-Behörden? Gezieltes Wegsehen der NRW-Behörden, weil man meinte, Berlin würde ihn schon beobachten? Oder etwa – spekulieren wir mal – der fehlgeleitete Versuch von NRW oder Berlin – ihn als Köder oder Quelle zu gebrauchen?
Wenn sich Innenminister Jäger versucht, damit herauszureden, dass gesetzlich nicht mehr möglich gewesen wäre, als getan wurde, ist dies ein Irrtum oder gar eine Lüge. Und Politiker, die keine Ahnung haben, und solche, die lügen, müssen früher oder später Konsequenzen ziehen. Dass die Opposition im Landtag so verhalten ist, dass sie bisher keinen Anpack findet, ist vorhersehbare Wahlkampftaktik. CDU und FDP kann nichts besseres passieren, als ein Innenminister Jäger, der in den nächsten Wochen reichlich Gelegenheit gibt – für Hickhack um aktuelle Stunden, Anfragen, Expertenkommissionen, Sondersitzungen von Ausschüssen und Landtagsplenum bis hin zum Untersuchungsausschuß. Das Drehbuch wird bereits geschrieben. Der Fall Amri von gestern ist bereits heute ein Fall Jäger. Er könnte in den nächsten Wochen ein Fall SPD werden und die Ministerpräsidentin sowie die gesamte Koalition betreffen. Und damit auch auf die Grünen ausstrahlen.
Hannelore Kraft wäre gut beraten, sich schnell zu überlegen, ob sie sich von Jäger und damit von einem Klotz an ihrem Bein befreit. Oder ob sie in Kauf nimmt, dass er der Mühlstein wird, der sie im Wahlkampf langsam aber sicher unter Wasser ziehen wird. Viel Zeit, einen klaren Strich zu ziehen, bleibt ihr nicht mehr. Auch die Grünen und ihre stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann müssen sich gut überlegen, was sie noch mitmachen wollen, ohne dass ihr angeschlagenes Image als Partei der Bürgerrechte und ihre Glaubwürdigkeit als Koalitionspartner vor die Hunde gehen, weil sie Jägers Unfähigkeit mitverantworten.
Genscher ist 1974 zu Willy Brandt gegangen, um ihm zu raten, wegen Guillaume zurück zu treten, um Schaden von der sozialliberalen Koalition abzuwenden. Wenn Hannelore Kraft nicht von sich aus erkennt, dass Ralf Jäger für die SPD im beginnenden Landtagswahlkampf eine andauernde, nachhaltig wachsende und der Opposition jeden Anlass gebende Belastung für die ohnehin im Umfragetief befindliche SPD ist und damit der Bilanz der rot-grünen Regierung schadet, dann muss im Zweifelsfall Löhrmann ihr das beibringen. Nicht nur im gemeinsamen Interesse der -Koalition, sondern im Interesse des Landes. Ralf Jäger ist kein “Jäger 90” mehr, er befindet sich im Sinkflug wie ein Lastensegler – ohne Antrieb mit vorhersehbarem Aufschlag auf dem Boden der Realität.
Dieser Beitrag erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de
Update: Die gleiche Sinkflug-These hat auch Düsseldorf-Kenner Ulrich Horn in einer ganzen Artikelfolge, erstens, zweitens, und drittens.
Danke für diesen exzellenten Beitrag.
Allerdings: den Fall Guillaume hast Du, zurückhaltend ausgedrückt, “stark vereinfacht”. Wenn ich mal eine starke Vereinfachung dagegen halten darf: Brandt stürzte, weil seine eigene SPD-Parteiführung das so wollte. Die gefährlichsten Gegner sind immer die “Parteifreunde”!
Und noch eine Sachfrage: kannst Du bei Gelegenheit mal den Begriff “Gefährder” erläutern. Gibt es eine Rechtsgrundlage, wie der definiert ist?