Ilija Trojanow schätze ich als allseits gebildeten kosmopolitisch orientierten kritischen Autor. Persönlich mit ihm bekannt bin ich bisher nicht. Erst heute stiess ich auf seine Aufforderung zum Fußballboykott. Man kann es mit der Fastenzeit auch übertreiben. Bei einem billigen “unrealistisch” will ich es aber nicht belassen.

Warum das Großkapital so auf den Fußball fliegt, hat Trojanow richtig beschrieben, ich habe es hier auch schon mehrmals getan. Die in diesem Business erzielbaren Renditen übertreffen noch die von Immobilien. Sie können aber auch eines Tages platzen. Die Pay-TV-Abozahlen bei den Verrücktesten, den Briten, gehen schon zurück; leere Plätze in den Stadien sind angesichts ihrer diesjährigen Langeweile auch in der Bundesliga gut und reichlich zu erkennen. Auch mir sind schon mehrmals Leihkarten von Dauerkarteninhabern meines Lieblingsvereins, mit dem jeder Fan länger zusammenlebt als mit irgendeinem Menschen, angeboten worden, und die Abwägung von Reiseaufwand und Ergebnis ist nicht immer für einen Stadionbesuch ausgefallen.

Auch fällt es mir nicht schwer, auf ein überteuertes Pay-TV-Abo zu verzichten, zumal man dort für teures Geld unterirdischen Journalismus und zusätzliche TV-Werbung reingedrückt bekommt. Sie werden es wohl nie lernen, wie TV in Deutschland funktioniert. Das dabei gespARTE Geld gebe ich aber gerne an meinen hart arbeitenden Kneipenwirt und seine ebenso hart und professionell arbeitende Belegschaft, die mir dafür zwei Flatscreens unter die Decke hängen, und bei denen ich mit Menschen jeder sozialer Herkunft aus meinem sozial erfreulich gemischt besiedelten Stadtteil fachliche Fußballfragen auf Ebene von Gleich zu Gleich kompetent, sachlich und temperamentvoll diskutieren kann.

Warum ist das unverzichtbar? Weil es diese Gelegenheiten Klassengrenzen überschreitenden Austausches in unserer Gesellschaft immer weniger gibt. Vom Schulbesuch, den Reisearten und -zielen bis zum Kulturgenuss oder dem Verfolgen kulinarischer und suchtbefriedigender Bedürfnisse gibt es tiefe und breite Gräben quer durch unsere Gesellschaft. Beim Streiten um den Fußball nicht. Die Fußballblase wird platzen, wenn das nicht mehr möglich ist. Seine Bosse tun alles dafür, dass es bald passiert. Dann, lieber Ilija, wäre es so weit. Timing ist wichtig, im Fußball, und auch politisch.

Und hier noch zum Nachtisch von correctiv, Mitautor Jens Weinreich, Geschichten aus dem Leben des höchsten deutschen Sportfunktionärs Thomas Bach.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net