Drei Viertel des Wahlberechtigten entschieden gestern über die Zusammensetzung des Bundestages. Verlierer waren die Volksparteireste, die die letzte Bundesregierung bildeten. Sie hätten auch jetzt gemeinsam noch eine Mehrheit. Wenn sie die wieder zur Koalition verbinden würden, wäre es wohl ihre Letzte. In Deutschland verändert sch das Parteiensystem langsamer als in den meisten anderen europäischen Ländern. Nur die angloamerikanischen Systeme mit ihrem Mehrheitswahlrecht (“the winner takes it all”) tun es noch weniger – eine Scheinstabilität, wie Brexit und Trump-Wahl bewiesen. Auch bei uns verschärft sich jetzt das Veränderungstempo.

CDU/CSU
Die Performance der Bundeskanzlerin angesichts einer historisch brutalen Wahlniederlage gelang überzeugend. In der TV-Runde war sie sich nicht zu schade, anderen das Wort zu erteilen, wenn es die Moderatorenmänner überforderte. Als Einzige gelang ihr ein Blick ins Weltgeschehen, das sich um einiges gefährlicher darstellt, als unsere deutschen Kinderzimmerstreitereien. Die grösste Gefahr lauert auf sie in der eigenen Partei, von denen, die das Geschrei von rechts kopieren wollen. Die werden sich bei solchen Wahlergebnissen vermehren und an Gewicht gewinnen. Weil die Gesamtmasse der CDU/CSU schneller schmilzt als die Arktis.

SPD
In meiner alten Heimat, der Emscherzone des Ruhrgebietes lag einst der sicherste SPD-Wahlkreis der BRD. Peter Reuschenbach holte dort 69,2%, in meinem Wohnort Karnap waren es über 75%. Die CDU, seinerzeit dort eine linke Alternative, ist seitdem zwischen 15 und 20% “stabil geblieben”. Von Reuschenbachs Ergebnis ist grob gerechnet ein Drittel übrig geblieben. Die Stadt wird von einem CDU-OB regiert. Die Entscheidung, in die Opposition zu gehen und die Oppositionsführung selbst übernehmen zu wollen, ist richtig. Das apodiktisch auf TV-Wirkung abzielend noch am Wahlabend verkündet, macht allerdings für Verhandler*innen der anstehenden Koalition “die Preise kaputt”, vermutlich mit kurzsichtig-taktischer Absicht. An der rhetorischen Performance muss also noch gearbeitet werden. Das gilt für Schulz wie für Nahles. An inhaltlichen Alternativen ebenfalls. Vier Jahre sind kurz.

AfD
Nein, das Ergebnis ist nicht überraschend. In der BRD, 1981 ohne DDR, war alles schon da. Es wurden sogar exakt “13%” identifiziert, und zwar bei allen, nicht nur den Wahlteilnehmenden. Insofern hat die AfD bei 75% Wahlbeteiligung ihr Gesamtpotenzial noch gar nicht ausgeschöpft. Das Politikproblem ist, wer durch die öffentlichen Diskurse ermutigt und wer entmutigt wurde. Das hat diese Wahl entschieden. Bemerkenswert ist das Geografiegefälle der AfD-Wahlergebnisse: je nordwestlicher, umso bescheidener, mit wenigen dunkelbraunen Flecken im Ruhrgebiet, da wo Ex-Sozialdemokrat Guido Reil (s.o. SPD) unheilvoll wirkte.

FDP
Die FDP wird ihr gefühltes Bürgerrecht auf Regierungsbeteiligung wieder durchsetzen. Die Performance ihres Bosses Lindner, ein schwacher Unternehmer aber starker Politiker, ist hochprofessionell und optimal opportunistisch. Das erkannt zu haben, war gestern schon an Merkels Nasenspitze zu sehen. Auch hier drohen die grössten Gefahren aus den eigenen Reihen: antieuropäische Querschiesser, neoliberale Prinzipienreiter, namenlose aber karrieregeile Egomanen, die ihre eigene, ganz persönliche Marktlücke bespielen wollen. Macron soll diese Truppe angeblich fürchten – Merkel tut es ganz sicher nicht, die hat ja sogar Schäuble ausgehalten.

Die Linke
Die Linkspartei hat diesen Begriff als Marke okkupiert und kontaminiert. Was soll jemand jetzt schreiben, wenn sie/er den Begriff gesellschaftlich und nicht parteipolitisch meint? Das werde ich noch lebenslang übelnehmen.
Bei dieser Partei sind tektonische Verschiebungen zu sehen. Im Osten verliert sie Substanz, im Westen gewinnt sie hinzu, vermutlich die linken Ex-Grünen-Milieus. Allerdings nur Stimmen. Organisatorische Kraft im Osten schmilzt weg und kommt im Westen nicht, im Gegenteil. Die Westmitglieder sind intellektuell so schwach auf der Brust, dass sie mit guten Wahlergebnissen gar nichts anzufangen wissen. Im Ruhrgebiet haben sie in fast allen Städten die Grünen bereits überrundet, Und weil ihnen das so gut gefällt, wollen sie an sich selbst auch nichts verändern. Ende der Entwicklung. “Die Linke” will beweisen: Fukuyama hat doch Recht.
In dieser Partei wird sch der Machtkampf zwischen Kipping und Wagenknecht verschärfen. Kipping repräsentiert eine klare linksreformistische Strategie, vielleicht zu verkopft. Wagenknecht surft auf ihrer Medienpopularität, obwohl marxistisch geschulte Persönlichkeit, wird sie so vom revolutionären Subjekt zum Systemobjekt, weil ihr das Mediensystemspiel sichtlich Spass macht. Wagenknecht, wenn sie sich durchsetzt, würde strategisch den Rechts-Links-Gegensatz mehr vernebeln, als ihr vielleicht selbst recht ist. Und das ist von mir schon sehr wohlmeinend ausgedrückt.

Grüne
Einen Wahltototipp im Freundeskreis hätte ich gewonnen, wenn meine eigene Partei nicht gewesen wäre. Die habe ich viel schwächer eingeschätzt als sie wurde. Sie wird in die Bundesregierung einziehen, da gibts kein Halten mehr. Angesichts des AfD-Gespenstes ist das gut vermittelbar und wird die Grünen weiter nach rechts in die gesellschaftliche Position rücken, die die FDP von 1969-1982 besetzt und dann wieder freigegeben hatte. Wobei: in der Ostpolitik war die FDP damals vielleicht linker. Die größte Ähnlichkeit fürchte ich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Parteilinken in der zukünftigen Bundestagsfraktion, ungefähr ein halbes Dutzend aus NRW, und eine aus Bonn, werden besonders hart schuften müssen, um Schlimmstes zu verhindern und Wichtiges zu retten. Es wäre gut, wenn sie sich dabei weniger untereinander zerstreiten, und ihre Kommunikations- und Bündnisfähigkeit erweitern würden.
In NRW haben die Grünen gegen des Bundestrend leichte Verluste, in Bonn gegen den NRW-Trend zarte Gewinne. Allerdings: von der Kommunalwahl (18,6%) und der OB-Wahl (22.1%) sind nur gut 14 übrig geblieben (s.o. Die Linke).
Sie sollten sich mehr um eine Übereinstimmung von politischen Positionen mit den sie repräsentierenden Kandidat*inn*en bemühen. Dann klappts auch wieder besser mit den Wahlergebnissen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net