von Wolfgang Hippe
aus dem Kalender “mülheim dreimal anders“
Och, wat wor dat fröher schön doch in Müllem … Klingt wie die Einladung zu einer kleinen Zeitreise. Man schlendert gemächlich die Frankfurter Straße entlang, nimmt im Japanischen Teehaus am Stadtgarten einen Tee, quert dann den Oscar-Platz Richtung Rhein, biegt auf der Suche nach der Strunde in die Bachstraße ein und findet sich auf der Freiheit wieder, die letzte der Strunder Mühlen hinter sich, das Plätschern des Baches noch im Ohr, neben sich an der Ecke das Haus »auf der Brücke«. Die große Brücke ignorieren wir jetzt einfach. Rechts erum und dann links grüßt St. Clemens, wir machen Stopp beim Kino in der Regentenstraße. Drehen uns wieder zum Rhein, irgendwo dahinten lächelt August Bebel. Davor hat sich in der Nummer 110 die Künstlergruppe »Mülheimer Freiheit« eingerichtet, den Namen kreierte der Galerist. »Es gab nie ein Manifest, wir haben uns nie als echte Gruppe verstanden, wir waren nicht die Sex Pistols der Malerei. Obwohl wir dauernd Musik gehört haben«, erinnerte sich der Maler Walter Dahn an seine Zeit als »junger Wilder«. »Wir waren einfach Leute, wo der eine diesen kannte, und der andere kannte jenen. Und jeder suchte ein Atelier und einen neuen Ansatz für sich.« Große Namen, kleine Geschichten, sanfte Erinnerungen an eine Zeit, als alles noch etwas langsamer abging.
Doch bitte keine Nostalgie! Die Strunder Mühlen wie das Teehaus sind lange passé, der Oscar-Platz wurde 1938 von den Nazis in »Wiener Platz« umbenannt – zur Feier des Anschlusses von Österreich ans Großdeutsche Reich – wer erinnert das noch? Die Künstlergruppe hat sich längst in die Kunstgeschichte aufgelöst. Nüchtern betrachtet lässt sich die große Brücke einfach nicht länger ignorieren. Sie bestimmt heute wesentlich die Struktur des Stadtteils und ist eine der Ursachen für dessen massive Belastung durch Stickstoffdioxide. Der Clevische Ring gehört mit 63–66 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel zur Spitzengruppe der belasteten Straßen europaweit und ist die Nr. 1 in NRW. Nicht zu vergessen der Feinstaub. Dicke Luft also am Hotspot rund um den Wiener Platz. Die Schadstoffbelastung birgt allerlei gesundheitliche Risiken mit sich. Weiß man schon länger, doch jetzt, wo allerorten Fahrverbote drohen, will sogar die Stadt Köln eine Verkehrswende, um diesem »toxischen Cocktail« entgegenzutreten. Wenn der schon länger geltende Luftreinhalteplan denn tatsächlich umgesetzt werden sollte, gilt es, sich daneben Ziele zu setzen, an denen man sich orientieren und weitermachen kann. Was wäre da hilfreicher als die Bereitschaft zur Entschleunigung und zur Nachhaltigkeit? Also Entschleunigung. Was damit gemeint ist? Jedenfalls mehr als nur die Forderung nach Tempo 30. Entschleunigen heißt, es muss überall langsamer zugehen.
Also Stressabbau im Beruf, etwas mehr Muße im Privaten, mehr Gemütlichkeit und Genuss auch bei den Mahlzeiten. Dem Gerücht nach reicht die Tradition der Entschleunigung bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals sollten in England Eisenbahnen nicht schneller als 10 km/h fahren dürfen. Es geht aber gar nicht um Langsamkeit, gefragt ist ein angemessenes und erträgliches Tempo im Alltag. Keine sinnlose Hektik, sondern die Orientierung an dem menschlich Möglichen, ein reflektierter Umgang mit Zeit und kein alles optimierendes neoliberales Zeitmanagement. Vielleicht sogar ein bisschen Recht auf Faulheit, wie sie Paul LaFargue, ein Schwiegersohn von Karl Marx, schon vor gut hundert Jahren einforderte – gegen eine kapitalistische Moral, die den Arbeiter und den Angestellten in die »Rolle einer Maschine« bringen wollte, »aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.«
Der schonende Umgang mit der eigenen Zeit ist das eine. Die sinnvolle Nutzung der natürlichen Ressourcen dieser Welt das andere. Was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist, ist natürlich umstritten. War die Nutzung von Atomenergie je sinnvoll, wo ihre Entsorgung Jahrtausende dauert? Ist die Diesel-Technik überhaupt nachhaltig machbar? Wie steht es mit der nachhaltigen Erzeugung von Strom für die E-Mobility? Wer möchte bestreiten, dass bei der Gestaltung von Nachhaltigkeit wirtschaftliche Interessen eine bedeutende Rolle spielen? Jedenfalls geht es stets um die Nutzung von natürlichen Ressourcen und Rohstoffen in Gegenwart und Zukunft, um den sinnvollen Umgang mit materiellen und immateriellen Gütern. Oder anders ausgedrückt: es geht mindestens um den bewussten Umgang mit Altem und Neuem, um Recycling und die Vermeidung von Müll.
Doch lassen wir den Wiener Platz hinter uns und spazieren weiter den Rhein entlang Richtung Düsseldorf. Der Faulbach markierte einst die Grenze von Mülheim. Daran erinnert heute noch ein Straßenname. Ganz hinten, dicht am Rhein, neben einem Skatepark, zwischen Wohnhäusern und einem Wohnturm hat der SSM gewirkt. Vor der renovierten Lagerhalle lässt es sich nun bei einem Tee oder Kaffee gut verweilen. Man kann den Frachtschiffen nachblicken, die rheinauf, rheinab vorbeigleiten. Rätseln, wieviel Passagiere auf einem dieser Kreuzfahrtschiffe Platz finden. Noch einmal Tee trinken, sich weiter entspannen und darüber hinwegsehen, dass man eigentlich gar nicht im historischen Mülheim sitzt, sondern knapp daneben. »Am Faulbach« eben.
Dieser Text ist dem Kalender “mülheim dreimal anders” der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM e.V.) entnommen, mit freundlicher Genehmigung des Autors. Hinter dem Link können auch die Fotos betrachtet und der Kalender bestellt werden.
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