von Bettina Gaus
So wie CDU und SPD in die Sondierungsgespräche gehen, vergraulen sie selbst treueste Anhänger. Ihnen fehlt aber auch etwas Entscheidendes.
Für die CDU traut sich nur der Geschäftsführer – wie heißt der noch mal? – vor die Presse. Für die SPD erklärt deren Vorsitzender Martin Schulz, man habe viel Zeit für eine grundsätzliche Entscheidung. Toller Start für Sondierungsgespräche. Sind die Traditionsparteien eigentlich bei Trost? So vergrault man selbst die treueste Gefolgschaft.
Überraschend ist die Entwicklung nicht. Immerhin waren die vermeintlich Starken nie zuvor vergleichbar schwach. Die CDU-Bundeskanzlerin muss sich von einem CSU-Minister auf der Nase herumtanzen lassen, weil ihr die Kraft fehlt, ihn zu feuern. Der CSU-Ministerpräsident kann nur noch um einen möglichst gesichtswahrenden Rückzug kämpfen. Und dann gibt es einen SPD-Vorsitzenden, der – ja. Dann gibt es auch den noch.
Es ist an der Zeit, nach aller berechtigten Kritik einmal ohne jede Ironie eine Lanze für die Sozialdemokraten und für Martin Schulz zu brechen. Die traditionsreichste deutsche Partei hat in ihrer Geschichte immer wieder bewiesen, dass sie zur Solidarität fähig ist. Manchmal zu spät. Manchmal bei der falschen Gelegenheit, Stichwort: Kriegskredite. Und dennoch. Im politischen Geschäft, in dem Intrigen und Gemeinheiten zum Alltag gehören, ist Anstand – und nichts anderes ist Solidarität – ein knappes Gut.
Welche andere Partei fällt Ihnen ein, die bereit ist, sich um den Preis von Nachteilen solidarisch zu zeigen? Die CSU? Die Grünen? Die CDU? Die AfD? Die Linke? Lachen Sie jetzt nicht.
Seit dem Wahlkampf-Tagebuch von Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen weiß die Öffentlichkeit, dass Martin Schulz im Wahlkampf allein gelassen wurde. Spätestens seither wissen es übrigens auch führende Kräfte in der SPD. Und sie wissen, wie solidarisch der Spitzenkandidat sich verhalten hat. Jetzt haben sie ein schlechtes Gewissen. Zu Recht.
Anders als aus schlechtem Gewissen heraus lassen sich manche Entscheidungen der Gremien nicht erklären. Es war idiotisch, dass der SPD-Vorstand am Tag nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen einstimmig beschloss, nicht in eine Große Koalition eintreten zu wollen. Nicht sehr viel klüger ist die Absicht, an einem Vorsitzenden festhalten zu wollen, der aus einer persönlich gebastelten Zwickmühle nicht herausfindet.
Aber die SPD steht ja nicht alleine da mit ihren Fehlentscheidungen, und andere Parteien können eben nicht einmal das sympathische Argument der Solidarität ins Feld führen. Medien und Öffentlichkeit diskutieren am liebsten über Führungsspitzen. Das ist verständlich, das macht auch am meisten Spaß. Aber wo ist eigentlich – wo zum Teufel ist eigentlich der Mittelbau?
Es ist unvorstellbar, dass die SPD-Gremien vergleichbare Fehler gemacht hätten, als Franz Müntefering noch Generalsekretär war. Oder dass sein CDU-Kollege Heiner Geißler ein ähnlich blödes Image von Kanzler Helmut Kohl erlaubt hätte wie das von Angela Merkel jetzt. Aber Müntefering und Geißler haben sich ja auch für das Innenleben ihrer Parteien interessiert und die Mechanismen ihrer Institutionen gekannt und beherrscht.
Ohne dieses Interesse, das verständlicherweise nicht von einer breiten Mehrheit geteilt wird, funktioniert kein System. Auch nicht das der parlamentarischen Demokratie. Warum gibt es offenbar keinen begabten Nachwuchs mehr, der das faszinierend findet? Je länger das Gezerre um eine mögliche neue Koalition dauert, desto deutlicher wird: Nicht einmal Parteifunktionäre wollen noch wirklich wissen, wie ihre Partei eigentlich tickt.
Woran liegt das? In der Antwort auf diese Frage ist das Geheimnis der Systemkrise verborgen. Und mit der, nicht etwa nur mit einer Regierungskrise, sind wir derzeit konfrontiert.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.
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