Gestern vormittag, mein Festplattenrecorder fing es für mich ein, wurde Carolin Emcke vom Schweizer Fernsehen (SRG), das dort bald abgeschafft werden soll, eine knappe Stunde interviewt. Hier hat sie mein Gastautor Dieter Bott vor längerer Zeit gewürdigt. Das SRG-Interview ist sehens- und hörenswert für alle, die politisch noch alle Tassen im Schrank haben, hier in der 3sat-Mediathek.
Ihr Schlüsselbegriff: das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Rechten bieten das ihrem Publikum an. Ein linkes Angebot dieser Art gibt es derzeit nicht. Der Grüne Vorsitzkandidat Robert Habeck versucht es, in Kontinuität zur gut dastehenden “Jamaica”-Verhandlungsdelegation, intelligent zu performen. Das wird aber durchkreuzt durch die Strategie seiner innerparteilichen Freund*inn*e*n, nicht mehr alle in eine Parteiführung mitmehmen, sondern dort die ganze – eingebildete – Macht erobern zu wollen.
Ich habe mich selbst zu prüfen versucht, wann und wo ich mich politisch zugehörig gefühlt habe.
Das erste Mal war es wohl, als ich als 15-jähriger mit einem “Willy-wählen“-Button am Jacket in die katholische Messe – noch von den Eltern erzwungen – gegangen bin; dort wo seinerzeit noch flammende Hirtenworte für die CDU zum Vortrag gebracht wurden.
Dann war es mit 16 mein Jugendverband Jungdemokraten, wo ich mich sogleich für die Trennung von Kirche und Staat engagierte. Und einiges über Liberalismus und Kapitalismus lernte. Der wichtigste Lernerfolg war aber: eine Partei, damals die FDP, kann immer nur ein Instrument zur Erreichung politischer Ziele, aber keine “politische Heimat” sein. Diese Erkenntnis hat mein politisches Leben immer und bis heute sehr erleichtert.
Es folgte mit 19 die Anti-Apartheid-Bewegung, bei der ich meine Fortbildung zum Kapitalismus, dieses Mal seine internationalen Seiten, fortsetzte, sowie die Zensurmechanismen des deutschen Medienkapitalismus genau studieren konnte. Ich lernte, was internationale Solidarität ist, und was nicht. Diese vielleicht radikalste Lebensphase war gleichzeitig, historisch und autobiografisch gesehen, mit dem grössten realpolitischen Erfolg verbunden. Ob es da einen Zusammenhang gab?
Daran schloss sich die Friedensbewegung der 80er Jahre an. Hier entstand erstmals ein Gefühl, Teil von etwas ganz Grossem zu sein. Und der Lerneffekt, wie stark Verschiedenheit und gegenseitiger Respekt machen können. Wie wichtig die Ausstrahlung von Optimismus ist.
Es folgte die Berufstätigkeit im parlamentarischen Apparat der Grünen. Wie schon gelernt: ein Instrument. Ein viel Besseres als die FDP es war. Aber kein grundsätzlich Anderes.
Überall sammelte ich neue Freundinnen und Freunde. Wie es meine Art ist, habe ich die meisten bis heute als solche behalten. Sogar einstige politische Feinde sind zu heutigen Freunden geworden. Man lernt nie aus, oder wie das Grundsatzprogramm der Jungdemokraten von 1971 formulierte: “Der menschliche Erkenntnisprozess ist prinzipiell unabschliessbar.”
So weit die Geschichte meiner politische Zugehörigkeiten. Was heisst das für heute?
Es kommt nicht auf die Berlin-Astrologie des Parteiengefüges an. Das “Sammlungsbewegungs”-Geschwätz von Lafontaine ist nicht substanzlos, weil SPD und Grüne nicht wollen, sondern weil dafür die gesellschaftliche Basis fehlt. Parteien sind nur eine Folge derselben.
Vorher muss beantwortet werden:
Welcher Idee und Bewegung sollen sich Menschen in Mitteleuropa heute zugehörig fühlen, die Frieden, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit für sich und ihre Kinder wünschen?
Wer bietet ihnen eine realistische Strategie an, dem näher zu kommen?
Das können verschiedene Parteien sein, die bereit sind, daran ggfls. arbeitsteilig zusammen zu arbeiten. Oder eine. Entscheidend: was tun diese Parteien, welche Ressourcen ihres Parteienprivilegs setzen sie ein, um solche Ideen und Wünsche in der Gesellschaft attraktiv und erfolgversprechend zu machen? Dann könnte (kollektive) Zugehörigkeit entstehen.
Das Bild der deutschen Parteien derzeit: keine Lust, hat doch sowieso keinen Zweck. Selbsterfüllende Prophezeiung. Deutsche Lieblingsbeschäftigung: Rechthaben. Die Garantie für AfD-Erfolg, die in dieser Disziplin nur noch mit dem FC Bayern vergleichbar ist.
Habeck hat das intellektuell scheinbar verstanden – immerhin, selten genug. Aber wie weit ist er bereit, über Selbstverwirklichung strategisch hinaus zu gehen?
Alle diese Gedanken liessen sich übrigens auch auf die politische Szene unserer Stadt übertragen, bzw. bildlich “herunter”-deklinieren. Aber ich will mich jetzt nicht weiter grämen. Ein leckeres Essen mit gutem Rotwein wartet.
Hören Sie Frau Emcke, es lohnt sich.
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