Alle Jahre wieder kommt die Heuchelei. Medien entsetzen sich über besoffene Jugendliche. Jedes Jahr: also so schlimm wie dieses Jahr war es noch nie. Es wird gepinkelt und gekotzt. Nein, früher hat es sowas nicht gegeben.
Das einzige, was es tatsächlich früher nicht gegeben hat, war: #metoo. Ob das den Karneval dieses Mal berührt?
Dieses Jahr war es an der Kölner Oberbürgermeisterin, sich auf die Spitze der Welle zu setzen. Vielleicht hat ihr jemand eine Statistik vorgelegt, aus der hervorgeht, dass sich die Mehrheit der Rheinländer*innen während des Karnevals auf den Kanaren, in der Toskana und in Ostfriesland befindet. Die Mehrheit der Karnevalist*inn*en demzufolge – alles Fremde, Einwanderer aus Eifel, Sauerland, Nord- und Ostdeutschland? Möglich ist das.
Doch der Karneval hat auch gute Seiten. Zuallererst, und darum existiert er überhaupt im Kapitalismus, ist er umsatzstark. Für die rheinische Gastronomie ist er mglw. noch wichtiger als die Adventszeit (Weihnachtsfeiern haben bereits Ähnlichkeiten mit Karneval). Auswärtige lernen aus diesem Anlass unsere schöne Region kennen, und kommen vielleicht wieder, weil sie glauben, wir seien lustig. Für europäische Urlaubsregionen ist es ebenfalls eine feine Hochsaisonergänzung – Rheinländer*innen sind kaufkräftig und konsumfreudig.
Und Fußballfans wie ich wissen seit ihrer Kindheit: wenn eine grosse Zahl vom Menschen zusammen kommt und – ungefähr – das gleiche will, dann ist das ein schönes Gefühl. Wenn Wildfremde nett sind, gute Laune haben, und Du sie auch hast – das setzt hormonelle Drogen frei, deren Wirkung unter Umständen mehrere Tage anhält. Da kann selbst ein schmerzhafter mit Heldenmut ertragener Kater – Spass machen.
Kneipen und Sitzungen – das muss jede*r selbst entscheiden, was sie/er mag. Dass der Müll im TV alljährlich Entsetzen bereitet, liegt oft auch an der Atmosphäre in dem Wohnzimmer, in dem das betrachtet wird. Ich persönlich bemesse das seit den 90er Jahren an der Stunksitzung (Langfassung, Samstagnacht 1 Uhr, WDR-TV, drei Stunden). Wenn ich sie zuerst im TV gesehen habe, war ich immer bedrückt, “wie schwach sie dieses Jahr ist”, um beim Besuch selbst festzustellen: huch, hier ist ja Party. Und jedes Jahr heisst es hinterher zu Distinktionszwecken: “Früher waren sie aber politischer.”
Alles hat Ähnlichkeiten mit der Südtribüne im Westfalenstadion – ein zentrales Element der Inszenierung, etwas unheimlich und rätselhaft für alle, die nie dabei waren und nicht dazugehören.
Wenn Ihnen das Geld zum Fliehen fehlt, folgende Empfehlungen: Fernhalten von öffentlichen Strassen und Plätzen: Donnerstag (Tag und folgende Nacht); Freitag- und Samstag-abend und -nacht, Montag ganztägig, Dienstagabend- und -nacht.
Sie können also raus: Freitag tagsüber, Samstag tagsüber, Dienstag tagsüber. Zur Proviantbeschaffung reicht das aus. Zuhause: TV und Radio aus; Mediatheken, Schallplatten, Bücher und alles mit Internet. Ganz Bekloppte arbeiten sogar, Vernünftige werden dazu gezwungen. Für Rosenmontag und Weiberfastnacht gibts dagegen Gerichtsurteile; das Codewort lautet „betriebliche Übung“ (nach drei Jahren). Oder Krankenscheine, aber dann: gut verkleiden!
Flucht aus dem Rheinland ist auch nicht immer wirkungsvoll: Aus meinem derzeitigen schwäbisch allemannischen Exil am Bodensee kann ich nur die Botschaft zurücksenden: Hier jibbet och Fastlovend! Nicht weniger feucht-fröhlich und lautstark! Allerdings: Kamelle werden durch kostengünstiges Konfetti eingespart (schaffe, spare, Hond verschieße – selber belle, Häusle baue…)
und der VfB und Freiburg haben unentschieden gespielt, Augsburg (liegt im bayerischen Schwaben) sogar gewonnen – im Gegensatz zum FC. (Schluchz!)
In Ostfriesland war es immer sicher. Dort ist der Vereinskarneval – Vereine gibts überall – in geschlossene Räume eingesperrt. Die Strassen werden fürs Boßeln – ein Leistungssport mit Getränkeservice, aber weniger Lärm – benötigt. Wer jetzt da buchen will, ist allerdings zu spät. Für nächstes Jahr müsste es noch was geben.