von Andreas Zumach

Stellen wir uns vor, der UNO-Menschenrechtsrat tagt, und niemand geht hin. Würde das irgendetwas ändern an der realen Menschenrechtslage in vielen Ländern und Regionen dieser Welt? Was wäre, wenn zumindest einige der 47 Mitgliedsstaaten des 2006 gegründeten Human Rights Council (HRC), der gestern in Genf zu seiner 37. Routinesitzung zusammenkam, keine Regierungsvertreter und Diplomaten entsenden würden. Oder wenn Amnesty International, Human Rights Watch und all die anderen Menschenrechtsorganisationen, die anläßlich der HRC-Sitzungen engagierte Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit betreiben, um Menschenrechtsverstöße anzuprangern und zu stoppen, diesmal aus Protest ganz fernbleiben würden? Es gäbe wahrlich genug Gründe, die Sitzung dieses UNO-Gremiums unter Teilnahme einiger der schlimmsten Menschenrechtsverletzer unter den 193 UNO-Mitgliedsstaaten als verlogene Alibiübung wahrzunehmen. Denn noch nie zuvor war die Kluft so groß zwischen den Menschenrechtsnormen, die in den letzten 70 Jahren auf Grundlage der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” von 1948 international und völkerrechtlich verbindlich vereinbart wurden, und der realen Situation in immer mehr Ländern dieser Welt. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres machte in seiner gestrigen Rede zur Eröffnung der HRC-Sitzung immerhin mit diplomatischen Worten auf die „erhebliche Kluft zwischen Wissen und Handeln vieler UNO-Mitglieder“ aufmerksam und benannte einen zentralen Grund für diese Diskrepanz: viele Regierungen würden immer noch einen „falschen Gegensatz“ konstruieren zwischen Menschenrechten und nationaler Souveränität. Doch tatsächlich würden „Staaten und ihre Gesellschaften durch die Durchsetzung von Menschenrechten gestärkt und damit auch ihre nationale Souveränität bekräftigt“.

Von “Hardcore-Realisten im Sicherheitsrat” nicht ernstgenommen

Der UNO-Generalsekretär listete in abstrakter Form zahlreiche arten von Menschenrechtsverstößen auf, die heute in immer mehr Ländern an der Tagesordnung sind. Konkret erwähnte Guterres aber lediglich die Verfolgung der Rohingyas in Bangladesh und die derzeitige “Hölle auf Erden” in Syrien – allerdings ohne Täter und Verantwortliche für diese Menschenrechtsverletzungen zu benennen. Deutlicher äußerte sich der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein. Er kritisierte unter anderem die Verfolgung und Inhaftierung hunderter Journalisten in der Türkei, die jahrzehntelangen Gefängnisstrafen für junge Frauen in El Savador wegen Schwangerschaftsabrüchen oder Fehlgeburten, sowie die “Haßreden des ungarischen Regierungschefs Orban und anderer Fremdenfeinde und Rassisten in Europa” gegen Flüchtlinge. Menschenrechte und ihre Verletzungen würden “von den geopolitischen Hardcore-Realisten im Sicherheitsrat der UNO in New York nicht ernst genug genommen”, beklagte der Hochkommissar. Er lobte, daß die beiden ständigen Ratsmitglieder Frankreich und Großbritannien inzwischen grundsätzlich darauf verzichtet haben, bei Abstimmungen über Maßnahmen zur Beendigung schwerer Menschenrechtsverstöße von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen, und forderte die anderen drei vetoberechtigten Mächte Rußland, die USA und China auf, “diesem positiven Schritt zu folgen”.

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hatte in ihrem letzten Woche veröffentlichten Jahresbericht eine weltweite Zunahme von Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Wie Guterres und al Hussein beklagte AI die “dramatische Verschlechterung” der Lage von Aktivisten, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten engagieren. 2017 wurden 312 Menschenrechtsverteidiger in 27 Staaten ermordet, 32 mehr als 2016. AI konstatiert eine “zunehmend sytematische Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten und bestimmten Bevölkerungsgruppen” sowie eine “die Gesellschaft spaltende Rhetorik und Haßreden von Politikern”. Als besonders Besorgnis erregende Beispiele nennt der AI-Bericht unter anderen die USA, Rußland, Ungarn, Ägypten, Venezuela und die Philippinen. Zudem würden in immer mehr Ländern – darunter auch in europäischen Demokratien wie Ungarn und Polen – ”grundlegende Menschenrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, sowie rechtstaatliche Garantien ausgehebelt”.

Trumps “hasserfüllter Schritt”

Den von der Trump-Administration verhängten Einreisestop gegen Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern kritisiert AI als “haßerfüllten Schritt”. Es sei zu befürchten, daß “die Rückschritte in Menschenrechtsfragen” die die führende westliche Demokratie im ersten Jahr der Regierung Trump gemacht habe, “einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen hat für andere Regierungen”, die sich mit ihren eigenen Menschenrechtsverstößen jetzt hinter den USA verstecken könnten.

Sollte der UNO-Menschenrechtsrat in seinen vier Sitzungswochen bis zum 23. März Beschlüsse fassen, die tatsächlich etwas ändern an den von AI, al Hussein und Guterres kritisierten Menschenrechtsverstößen, wäre das eine positive Überraschung.

Über Andreas Zumach:

Andreas Zumach ist freier Journalist, Buchautor, Vortragsreferent und Moderator, Berlin. Von 1988- 2020 UNO- Korrespondent in Genf, für "die tageszeitung" (taz) in Berlin sowie für weitere Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten. Seine Beiträge sind in der Regel Übernahmen von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.