Der Kandidat für den CDU-Parteivorsitz Friedrich Merz hat eines der letzten Tabus unserer Zeit gebrochen. Deshalb ist er unwählbar.
Erfahrene Zahnpasta-Benutzer wissen, dass sich das Zeug nicht mehr in die Tube zurückdrücken lässt, wenn es einmal draußen ist. Ein erfahrener Politiker weiß, dass sich eine provokante Äußerung nicht ohne weiteres zurücknehmen lässt, zumal dann nicht, wenn sie von Fernsehkameras übertragen wurde. Was die Frage aufwirft: Ist Friedrich Merz ein erfahrener Politiker?
Offenbar nicht. Der Einwand, er habe es doch immerhin schon einmal bis zum Fraktionsvorsitzenden gebracht, wäre geschichtsvergessen. Die CDU war seinerzeit im Nachklang der Spendenaffäre zutiefst verunsichert. Alles ging, nichts ging. Selbst ein CSU-Kanzlerkandidat ging. Und als sich die Verhältnisse zurechtgerüttelt hatten, war Merz schnell weg vom Fenster.
Möglicherweise hat der Kandidat für den CDU-Vorsitz mit seinem Angriff auf das deutsche Asylrecht und dem späteren Dementi seiner selbst nur in eine alte Trickkiste gegriffen: dem rechten Rand zuzwinkern und rasch in die andere Richtung schauen, damit man für alle wählbar bleibt. Sollte es so gewesen sein, dann spräche das allerdings nicht für strategische Klugheit.
Irgendjemand müsste Friedrich Merz dann nämlich bald einmal erklären, dass AfD- und CSU-Mitglieder auf dem CDU-Parteitag kein Stimmrecht haben. Und, wichtiger noch: dass Angela Merkel niemanden mit vorgehaltener Waffe gezwungen hat, sie zu wählen. Die laute Kritik an ihr lässt gelegentlich in Vergessenheit geraten, dass ein großer Teil der Basis ihren gesellschaftspolitischen Kurs zur Mitte hin für richtig hält. Nach wie vor.
Aber vieles spricht dafür, dass Friedrich Merz gar nicht in eine Trickkiste gegriffen hat, sondern einfach so geredet hat, wie es ihm ums Herz war. Und sich dabei um den Kopf geredet hat. Nichts in der politischen Vergangenheit des ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden lässt auf eine Neigung zur Intrige schließen. Dass jemand eklige politische Ansichten vertritt, macht ihn noch nicht hinterhältig.
Wie naiv!
Merz ist stets dadurch aufgefallen, dass er sagte, was er meinte, und gelegentlich allzu spät merkte, dass andere Leute zum Ränkespiel fähig waren. Zum Beispiel Angela Merkel und Edmund Stoiber. Naivität ist das Stichwort. Spricht das für oder gegen Merz? Das kommt auf den Standpunkt an. Wer eine Geburtstagsrede für ihn entwirft, wird diese Eigenschaft sicherlich positiv erwähnen. Aber wer wünscht sich einen naiven Kanzler? Niemand bei Verstand, unabhängig von der politischen Überzeugung.
Die Chancen von Annegret Kramp-Karrenbauer steigen gerade. Sie hat in den letzten Wochen einige Dinge richtig und nichts falsch gemacht. Das ist noch kein Grund dafür, hoch auf sie zu wetten. Aber immerhin.
Die Welt wird sich weiter drehen, egal, wer künftig den Vorsitz der CDU übernimmt. So wichtig ist die Partei dann auch wieder nicht, weder für Deutschland noch für die Welt. Das jedoch gilt nicht für die Asyldebatte, die Friedrich Merz in Gang gebracht hat. Er hat damit ein Tabu gebrochen. Ob er nun wusste, was er tat, oder eben nicht: Von jetzt an gilt dieses Menschenrecht als verhandelbar. Das ist unverzeihlich.
Es ist hinreichend viel über die historischen Gründe gesagt und geschrieben worden, die dazu führten, dass dieses Menschenrecht bei uns in der Verfassung steht. Tabus stehen derzeit in westlichen Gesellschaften nicht hoch im Kurs. Wer eines der letzten bricht, sollte sich genau überlegen, was er tut. Falls Friedrich Merz nicht wusste, was er tat, dann sollte man ihn nicht wählen. Falls er es wusste: dann auch nicht.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.
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