Wenn auch nur ein Teil der Vorwürfe, die in den Fragen der Angehörigen und Opfer des Terroranschlages vom Breitscheidplatz Dezember 2016 enthalten sind, zutreffen, wird hier ein politischer Vertuschungsakt ungeahnten Ausmaßes erahnbar. Seit Wochen und Monaten wartet die Öffentlichkeit darauf, dass die skandalösen Vorgänge und Verstrickungen von Landeskriminalamt Berlin bis zum Bundesamt für Verfassungsschutz, Innenministerien, BND und anscheinend auch ausländischen Geheimdiensten Licht gebracht wird. Wer angesichts dessen die Fragen der Opfer liest, den muss das rechstaatliche Grauen packen.
Wo sind die selbstbewussten Parlamentarier, die sich nicht gefallen lassen, vom Verfassungsschutz wie Dienstboten behandelt zu werden, die sich mit jeder Menge geschwärzter Seiten zufrieden geben und sich zur Akteneinsicht einem schon symbolhaft unwürdigen Verfahren beugen? Wenn das Parlament, die Volksvertretung eine Untersuchung führt, haben sich die Untersuchten mit ihren Akten dorthin zu begeben und Rechenschaft abzulegen. Stattdessen werden Parlamentarier in den Verfassungsschutz einbestellt und müssen sich auch noch bei ihren Untersuchungen beobachten lassen? Das ist ein klarer Verfassungsbruch, das Parlament kontrolliert die Behörden und nicht ungekehrt. Wie kann sich – selbst eine Ausschußminderheit – überhaupt auf ein solches Verfahren einlassen?
Was ist das für eine Opposition, die es sich bieten lässt, dass mit verfahrensverschleppenden Anträgen eine zeitnahe Aufklärung erschwert, wenn nicht unterbunden wird? Und wie kann es überhaupt sein, dass es sich gestandene Bundestagsabgeordnete bieten lassen, dass eine untergeordnete Amtscharge sich anmaßt, ihnen Fragen zu verbieten oder gegen Aufklärungebegehren der Parlamentarier zu intervenieren wagt? Wieso wird gegen ein solches Procedere – von wem auch immer vorgeschlagen oder vereinbart – nicht sofort verfassungsrechtlich vorgegangen? Hier werden offensichtlich Rechte des Parlaments und eines Untersuchungsausschusses mit Füßen getreten!
Was ist das für ein Ausschuß, der sich gegen eine Amtsführung des Vorsitzenden, der aufgrund seiner Äußerungen zumindest nicht unbefangen scheint, und nicht zum ersten Mal ein vermindertes Aufklärungsinteresse deutlich macht, nicht zur Wehr setzt? Der Anschlag von Anis Amri ist nun fast zweieinhalb Jahre her. Und die Aufklärung tappt ebenso im Dunkeln, wie die NSU-Ausschüsse bei der Aufklärungen von Morden an der Polizistin Kiesewetter und den Vorgängen um den Mord an einem NSU-Opfer, bei dem ein hessischer Verfassungschützer zeitgleich am Tatort gewesen ist und nichts gehört und gesehen haben will. Die Parlamentarier aller beteiligten Parteien müssen begreifen und dürfen nicht mehr zulassen, dass ihnen systematisch Fakten unterschlagen, sich hinter Zuständigkeiten versteckt und das Parlament am Nasenring durch die Arena gezogen wird. Auch wenn darüber vielleicht der eigene Minister stolpert – oder dessen Haltbarkeitsdatum wie bei Seehofer ohnehin abgelaufen ist
Sonst treiben wir auf einen Staat zu, in dem die Geheimdienste schalten und walten, wie sie wollen, egal wer unter ihnen Minister ist, und egal welchen zahnlosen Ausschuss sie mit tausenden Seiten geschwärzter Akten zumüllen dürfen, um unbehelligt und unkontrolliert ihre selbst für geheim erklärten Machenschaften weiterzuführen. Und ihnen Leute wie Horst Seehofer, denen ein liberaler Rechtstaat nicht nur gleichgültig, sondern ein Dorn im Auge ist, mit dem nächsten Gesetzespaket zur Erweiterung ihrer Befugnisse sie in ihrem tun in der Grauzone der Rechtstaatlichkeit noch weiter bestärken.
Es ist jetzt 37 Jahre her, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz einem Minister Gerhart Baum nachgeordnet war, der durchgesetzt hat, dass auch der Geheimdienst der Verfassung und den Bürgerrechten unterworfen ist. Seitdem hat sich das Verhältnis anscheinend umgekehrt: Der Verfassungschutz als nachgeordnete Behörde erklärt den Ministern, was seiner Meinung nach verfassungskonform ist und was nicht – und Parlamentarier lassen sich darauf ein, dass er ihnen vorschreibt, was sie fragen dürfen und was nicht.
Das Grundgesetz wird am 23. Mai 70 Jahre alt, die Weimarer Verfassung am 11. August 100. Schöne Reden werden gehalten werden, viel Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichte wird erzählt werden. Die Verfassungswirklichkeit aber zeigt sich dort, wo es darum geht, dem Staat seine Grenzen aufzuzeigen. Und hier steht es schlecht um das Verhältnis von Aufklärung und Vertuschung. Es ist erschreckend, wie wenig präsent die Grundrechte im Bewusstsein der Öffentlichkeit sind. Es wird Zeit, das Grundgesetz wieder in die Gesellschaft hinein zu tragen und mit Leben zu erfüllen.
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