Eine Gesprächsrunde über Einsätze als Nord-Süd-Freiwillige in Argentinien und Ecuador; Interview: Wiebke Adams

Alle drei haben ein Freiwilliges Soziales Jahr in Lateinamerika gemacht. Lea war 2013/2014 über weltwärts im Norden von Argentinien und betätigte sich dort in einer NGO, die zum Thema „Indigene Rechte“ arbeitet. Marie war 2012/2013 selbstorganisiert in Ecuador in einer indigenen Gemeinde. Und ich war 2013/2014 in einer NGO in Argentinien, die sich mit Umweltschutz beschäftigt. Anscheinend haben uns diese Erfahrungen geprägt, denn mittlerweile studieren wir alle Altamerika- und Lateinamerikastudien in Bonn. Das ist sicherlich auch eine Erklärung für unsere durchaus kritische Haltung zu Freiwilligendiensten und „Entwicklungshilfe“.

Wie habt ihr euch auf eure Zeit im Ausland vorbereitet?

M: Ich habe zunächst an einer Vorstandssitzung des Vereins teilgenommen. Alle Interessent*innen für den Freiwilligendienst in dem Jahr wurden dazu eingeladen. Die Vorstandsmitglieder erzählten von ihren Erfahrungen und von der Vereinsarbeit. Danach gab es vom Verein aus leider keine größere Vorbereitung mehr. Wir eigneten uns selber Informationen über das Land an. Da in der indigenen Gemeinde, in der der Freiwilligendienst stattfindet, niemand Englisch oder Deutsch spricht, waren wir aber dazu verpflichtet einen Sprachkurs in Quito zu machen.
L: Bei mir gab es ein zweiwöchiges Vorbereitungsseminar, das war ungefähr einen Monat vor der Ausreise. Wir waren mit den 20 anderen Freiwilligen zusammen und sprachen über verschiedene Themen, wie zum Beispiel weltwärts, das evangelische Missionswerk und deren Geschichte der Freiwilligenarbeit. Wir tauschten uns darüber aus, was unsere Motivation für einen Freiwilligendienst ist, und eigneten uns Informationen über die jeweiligen Länder an.

Finanzierung

Wie habt ihr den Freiwilligendienst finanziert?

L: Mein Freiwilligendienst wurde von weltwärts finanziert. Bei weltwärts ist es so geregelt, dass ein Großteil der Kosten übernommen wird. Man ist aber dazu verpflichtet, 1800 Euro an Spenden zu sammeln. In meiner Organisation sollten wir deshalb zehn Personen oder Unternehmen finden, die sich über die zwölf Monate des Freiwilligendienstes dazu verpflichten, einen festen Betrag zu spenden, um so auf die 1800 Euro zu kommen. Die IERP, ein deutsche evangelische Gemeinde in Argentinien, koordiniert die Freiwilligendienste vor Ort. Sie gab uns ein Essensgeld von 100 Euro.
M: Da stupor mundi e.V. ein kleiner Verein ist, der sich nur über Spenden finanziert, mussten wir die Kosten für den Flug, notwendige Impfungen, das Visum und die Auslandskrankenversicherung selbst tragen. Eine Woche Sprachkurs wurde aber von dem Verein übernommen. Die Unterkunft war kostenfrei, da wir in einem eigens für die Freiwilligen gebauten Haus in der indigenen Gemeinde wohnten. Außerdem zahlte der Verein ein monatliches Taschengeld von 110 Dollar. An den Wochenenden wurden wir in einer Familie untergebracht, die in der nächstgelegenen Stadt lebte; der Verein zahlte ihnen eine Aufwandsentschädigung von 50 Dollar pro Monat

Was zu tun war

Was waren eure Aufgaben?

M: Bei uns gab es keine festen Aufgaben. Am Anfang des Aufenthaltes trifft man sich mit verschiedenen Akteur*innen der indigenen Gemeinschaft, wie zum Beispiel mit dem Lehrer*innenkollegium. In dem Dorf gibt es die einzige Schule im Umkreis mit einem Abschluss, der dem Abitur entspricht. Danach wird abgesprochen, inwiefern und wo man sich sinnvoll unterstützend einbringen kann. Das bedeutet auch, dass jede*r anhand der eigenen Interessen und Fähigkeiten entscheiden kann, wo er/sie mitarbeiten möchte. In meinem Fall war es so, dass während meines Aufenthalts keine Englischlehrerin vor Ort war. Also habe ich für die Hälfte der Klassenverbände den Englischunterricht vorbereitet und gegeben. Im Gegenzug durfte ich dann am Kichwa-Unterricht teilnehmen. Nachmittags wurde zu bestimmten Zeiten das Freiwilligenhaus geöffnet, da es dort einen Raum mit Spielsachen und Bastelkram gibt; einen Teil dieser Zeit nutzten wir auch zur Hausaufgabenbetreuung. Dem Verein war es aber auch wichtig, dass wir nicht nur mit den Kindern Kontakt haben, sondern mit allen Menschen im Dorf. Deshalb beteiligten wir uns auch an den Mingas (gemeinsame Arbeitseinsätze) der Gemeinschaft, zum Beispiel als Wasserrohre im Dorf verlegt wurden.
L: In meinem Projekt war es nicht so klar strukturiert, was die Freiwilligen machen sollen und können. Es war auch manchmal schwierig sich einzubringen, als jemand komplett ohne Qualifikation. In der NGO gibt es verschiedene Sparten und ich war dann beispielsweise in dem Büro eines Anwalts tätig, der sich unter anderem für die Landrechte der Indigenen einsetzt. In dem Büro empfing ich die Menschen, die von außerhalb kamen, um dort rechtliche Unterstützung zu bekommen. Ein Grund, warum sie, abgesehen von den Landrechten, oft zu ihm kamen, war etwa, weil sie im Bürgeramt nicht drangenommen wurden, weil sie indigen sind. Sie sind dort generell viel strukturellem Rassismus ausgeliefert, wogegen die NGO vorgehen will. Außerdem war ich noch mit einer Gruppe von Kunsthandwerkerinnen aktiv. Die brauchten aber auch keine „Hilfe“ von mir, sondern ich habe sie eher begleitet und mit einer anderen Sozialarbeiterin Workshops gegeben, bei denen es um die Finanzierung der Gruppe ging. Dann gab es noch eine Art Wohnheim für Studierende aus indigenen Gemeinschaften vom Land, die es sich sonst nicht hätten leisten können in der Stadt zu studieren. Die habe ich auch begleitet, obwohl auch da meine Begleitung eher auf freundschaftlicher, und nicht auf professioneller Ebene lag. Oft hatte ich das Gefühl, keine „richtige Arbeit“ zu haben, was auch schwierig war, weil ich eigentlich damit gerechnet hatte, mitarbeiten zu können. Letztlich habe ich viel begleitet und selbst gelernt; aber ich war zu unqualifiziert, um wirklich zu arbeiten.

Crowdfunding, Freundschaften

Was hat euch am nachhaltigsten beeindruckt?

M: Ich erinnere mich gerne daran, wie herzlich wir im Dorf von den Kindern empfangen wurden. Sie sind sofort auf uns zugestürmt und haben uns gezeigt, wo wir wohnen. Das Projekt gab es damals auch schon zehn Jahre. Deshalb hatte ich auch das Gefühl, dass ein wirklicher Austausch stattfand, der mit gegenseitiger Neugier und Interesse zu tun hat. Das mit dem Englisch und Kichwa-Unterricht zeigt diese Gegenseitigkeit. Ein anderes Beispiel dafür ist, dass wir einmal mit unseren Abiturient*innen ein Projekt starteten, bei dem Bäume gepflanzt werden sollten. Wir übernahmen das Crowdfunding, sammelten in Deutschland Spenden und pflanzten dann mit den Schüler*innen zusammen die Bäume. Dadurch haben wir gelernt, was es bedeutet, nachhaltige Forstwirtschaft im Páramo zu machen. Es war immer ein schöner Austausch von Wissen und Kenntnissen.
L: Diesen Austausch habe ich auch so erlebt, aber vor allem durch die Freundschaften, die ich dort mit den Studierenden aus dem Wohnheim knüpfte. Womit ich mich ein bisschen allein gelassen fühlte: Ich hatte keine persönliche Ansprechperson von der Organisation. Man wird als junger Mensch in eine ganz neue Situation und Realität katapultiert und mit vielen Dingen konfrontiert, die man vorher noch nicht wahrgenommen hat und mit denen man vielleicht noch nicht so gut umgehen kann. Ich hätte mir da eine gewisse Betreuung gewünscht, um auch über solche Dinge reden zu können.
M: Dadurch, dass der Verein, bei dem ich war, so klein ist, war auch alles etwas persönlicher. Es gab zwei Betreuer vor Ort in Ecuador, mit denen wir uns einmal im Monat trafen und reflektierten, was gut läuft und was weniger. Von ihnen wurden wir zum Beispiel auch ins Dorf begleitet und den Lehrern und Schülern bei der Einschulung vorgestellt. Neben der Begleitung vor Ort hatten wir in unregelmäßigen Abständen – im Dorf gab es kein Netz für Internet und Telefon – auch Kontakt zu den Ansprechpartnern in Deutschland, meist per Mail. Dieser Kontakt sowie der Kontakt zur Familie waren jedoch nur am Wochenende in der nächstgelegenen Stadt möglich.

Institutioneller Rassismus

Inwiefern hat sich eure Perspektive auf das besuchte Land im globalen Süden verändert?

L: Für mich war es krass, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen, die Diskriminierung und den strukturellen/institutionellen Rassismus dort mitzuerleben. Den gibt es in Deutschland zwar auch, aber diese Erfahrung hat mir dafür erst die Augen geöffnet und dazu geführt, dass ich mir jetzt mehr Gedanken über solche Themen mache.
M: So ging es mir auch. Am Wochenende habe ich in einer mittelständigen ecuadorianischen Familie gewohnt. Unter der Woche in einer indigenen Gemeinde, die nicht nur räumlich, sondern auch sozial etwas „isoliert“ war. Das habe ich zum Beispiel am Schulsystem gemerkt, oder im Alltag, wenn Menschen aus der Stadt über Menschen im Dorf redeten. Das war das erste Mal, dass eine Reflektion über gesellschaftliche Machtstrukturen und stereotype Denkmuster bei mit stattgefunden hat, die dazu beitragen, dass manche Menschen marginalisiert werden und andere nicht.

Wie sieht es bei euch mit Engagement nach dem Engagement aus?

L: Ich habe auf einigen Seminaren meiner Organisation mitgeholfen. Die beteiligen sich nämlich auch an dem Süd-Nord-Programm, bei dem Freiwillige aus anderen Ländern nach Deutschland kommen.
M: Lea und ich machen zum Beispiel ein selbstorganisiertes Seminar an der Universität zum Thema Feminismus und erarbeiten unter anderem einen kritischen feministischen Stadtrundgang. Das zählt ja als politische Bildungsarbeit.

Es fehlt Raum für kritische Reflektion

P.S.: Wir haben uns noch lange weiter ausgetauscht. Letztendlich sind uns viele Fragen geblieben. Was für eine politische Agenda wird mit den Freiwilligendiensten verfolgt? Wird das Entwicklungsdogma durch Freiwilligendienste einfach unreflektiert weitergeführt? Mittlerweile heißt es zwar Entwicklungszusammenarbeit und nicht mehr Entwicklungshilfe, aber wem wird eigentlich wirklich geholfen, wenn unqualifizierte junge Menschen ins Ausland geschickt werden? Wenn das Ziel von weltwärts ist, junge Menschen ins Ausland zu schicken, damit sie ihren Horizont erweitern und lernen, ihr eigenes Leben zu relativieren, müssten noch bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Aber selbst in unabhängigen kleinen Vereinen, bei denen viel auf ehrenamtlicher Arbeit beruht, fehlen oft Raum und Zeit für eine kritische Reflektion. Wenn aber keine kritische Vorbereitung und Nachbereitung der Erlebnisse stattfindet, werden im schlimmsten Fall Stereotype und Rassismen noch verstärkt und weiterverbreitet.

Das Interview führte Wiebke Adams am 26. März 2019 in Bonn. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 424 April 2019, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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