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European Song Contest – was für ein Zores

Künstlerisch ist der ESC eigentlich ein Katastrophe – jede Menge rundgelutschte oder schwülstige, lächerliche und aufgeblasene, technisch aufgepimpte oder mit an niedere Instinkte appellierende Beiträge. Mit einer langjährigen Freundin aus Berlin schaue ich ihn mir trotzdem (fast) jedes Jahr an – ein Ritual, wir lästern und gackern einen netten Abend lang ab und freuen uns, dass Israel, Australien und Russland bei Europa dabei sind und lachen über die niedlichen osteuropäischen Einzelstaaten, all die ehemaligen jugoslawischen und sowjetischen Ex-Republiken von Azerbeidschan bis zu Weißrussland, die alle so viel zählen wie die Riesen Deutschland, Frankreich und Großbritannien und es denen mal richtig zeigen. Amüsieren uns, wie lauter wichtige Länder von Albanien bis Zypern und natürlich Griechenland sich gegenseitig die Voten zuschieben und raten den Sieger – der diesmal wieder ein einfaches, weder schwülstiges, noch dramatisches Liedchen aus den Niederlanden war. Maseltov! Aber jetzt kommt’s:

Mir scheint, in diesem Jahr war etwas anders. Der Song Contest war in Israel – das ist begrüßenswert, wäre da nicht, dass Benjamin Netanjahu damit auch Politik gemacht hätte. Es wäre naiv zu glauben, dass der ESC unpolitisch wäre und das ist genutzt worden – allerdings von den Falschen. Im Vorfeld von der rechten israelischen Regierung wie von der Hamas mit Eskalationen der Gewalt. Und auch während der Veranstaltung passierten eigenartige Dinge. Da war ein großartig geplanter Auftritt von Madonna, die für ihre antiklerikale und gegen religiöse Eiferer gerichtete Performance bekannt ist. Doch während ihrer super choreografierten Show blieb ihr nicht nur die Stimme weg, – sie traf keinen Ton, sie hörte sich offensichtlich nicht – wer bühnen- oder Performanceerfahrung hat, weiss, dass die beste Sängerin dadurch matt gesetzt werden kann, dass sie sich selbst nicht hört. Und das passierte nach Stunden der optimalen Technik ausgerechnet bei ihr, deren Auftritt von orthodoxen jüdischen Fundamentalisten – den Koalitionspartnern von Netanjahu wochenlang zu hintertreiben versucht worden war. Komisch.

Erfreulicher Conchita Wurst, die ebenfalls, aber ungestört im Rahmenprogramm einen Transen-Auftritt für Vielfalt und Toleranz hinlegte – angesichts des Publikums besonders in den homophoben Ländern Osteuropas ein wichtiger Beitrag zur kulturellen Emanzipation. Dass die isländische Songgruppe gegen Ende der Veranstaltung mit Spruchbändern darauf hinwies, dass es auch noch Palästensinenser gibt, wurde mit Pfiffen und – besonders übel – einer glatten Zensur durch die Kameras beantwortet. Auch der ARD-Kommentator empörte sich über die Isländer – ohne dass die Zuschauer überhaupt hätten sehen können, was denn da nun wirklich stand.  Ein beunruhigender Fakt, der zeigt, wie weit im sogenannten “freien Westen” und seinen Medien Zensur inzwischen nicht nur möglich, sondern alltäglich praktiziert und hingenommen wird. Ich bin mal gespannt, ob sich darüber irgendeines unserer Leitmedien aufregen wird.

Ach ja – und es gab da ja auch noch einen deutschen Beitrag – mehr oder weniger mittelmäßig von zwei Singesternchen – eine blond, eine dunkel – langweilig und adrett vorgetragen. Künstlerisch mainstream, bekamen sie von den Jurys zumindest 32 Punkte – das reichte für Platz 24 von 30. Nun, künstlerisch haben sie auch nicht mehr verdient und was Charisma betrifft, sind die Zeiten einer exotisch normalen Schülerin Lena Meyer-Landrut eben lange vorbei. Aber was überraschte, war das Votum der Zuschauer: Null Punkte für Deutschland – dem einzigen unter allen teilnehmenden Ländern. Null Punkte heisst, kein Publikum der 30 teilnehmenden Ländern hat auch nur einen einzigen Punkt an die “Deutschen” verschenkt. Die statistische Normalverteilung würde nahelegen, dass Deutschland “irgendwo da hinten” mit fünf bis zehn Punkten landen könnte – andere Beiträge bekamen über 250 vom Publikum. Aber null Punkte im Bürgervotum, das sollte beunruhigen. Sagt das vielleicht etwas über die Rolle Deutschlands in der EU aus? Jobmotor, Produktionesriese und hegemonialer Staat, Merkel und Schäuble und ihre Austeritätspolitik? “strahlt” so das häßliche Bild von Deutschland im Rest der EU und darüber hinaus? Der ESC hat uns einen Spiegel vorgehalten. Reich, aber nicht besonders sympathisch, könnte eine Erklärung für dieses Ergebnis sein. Für die Europawahl beunruhigend.

Und noch ein zweites Ergebnis ist ebenso verdient, wie unterirdisch: Das Vereinigte Königreich, POP-Ikone der Welt seit Bill Healey, den Beatles und den Rolling Stones, Joe Cocker, David Bowie und unzähligen anderen Stars, die Rock-Geschichte schrieben, landete zum vierten mal auf dem allerletzten Platz mit einem zugegeben schlechten Song. Liegt es am Brexit, dass das Vereinigte Königreich nicht mehr kann, und welche Mechanismen sind es, die Kleinbritannien als Land, das einmal Popstars und kreative Musik am laufenden Band generierte, so floppen lässt?

Zuallerletzt: Tipp an Barbara Schöneberger: Hellrot und Magenta zusammen geht gar nicht. Schließlich haben wir Farbfernsehen. Und liebe Leser, nun scheltet mich nicht dafür, dass ich mich einem so lächerlichen Anlass widme: Die Süddeutsche Zeitung hat sich gestern auf SEITE EINS mit dem Jahrhundertproblem elektrischer Tretroller beschäftigt!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Eilige Intuition

    Obwohl mich der Grand Prix seit Jahren überhaupt nicht mehr interessiert, habe ich den launigen Kommentar von Anfang bis Ende mit großem Vergnügen goutiert, nicht nur, weil sie mich durchweg in meiner Haltung auf höchst amüsante Weise bestaigten.

    Die letzten beiden Sätze brachten mich dann am Ende ein weiteres Mal zum Schmunzeln:

    “Und liebe Leser, nun scheltet mich nicht dafür, dass ich mich einem so lächerlichen Anlass widme: Die Süddeutsche Zeitung hat sich gestern auf SEITE EINS mit dem Jahrhundertproblem elektrischer Tretroller beschäftigt!”

    Sehr schön. Danke.

  2. Eilige Intuition

    Jetzt erst sehe ich gerade “Roland Appel”.

    Jetzt wird mir auch mein Zuspruch klar. ;-))) ****schleim

    Besten Gruß

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