Dieser Hypothese ging am vergangenen Wochenende eine angestrengte ARTE-Dokumentation nach: “Unser Hirn ist, was es isst” von Raphaël Hitier. Ehrlicherweise behauptete und bewies er es nicht, sondern stellte Wissenschaftler*innen vor, die dieser Hypothese hinterherforschen. Sicher, vieles spricht dafür. Z.B., dass nach meiner Anschauung nur Doofe schlechtes Essen mögen, gutes Essen für Zeitverschwendung halten und lieber schnell irgendwas Anderes erledigen müssen. Aber ich muss zugeben: wissenschaftlich beweisen kann ich das nicht.
Darum scheitert auch Hitier. Mit Wissenschaft, auch der eher Wahrsagerei ähnelnden Ernährungswissenschaft, ist dem Kern der Sache nicht näherzukommen. Und mit Volkserzieherei schon gar nicht. Dass der Mensch Süsses mag, ist eine geniale Erfindung der Evolution. So lehnen schon Säuglinge Bitteres ab – es könnte giftig sei. Süsses dagegen mögen sie ohne es erlernt zu haben: es liefert Energie. Und die brauchen sie dringend, um zu verarbeiten, was da alles ausserhalb der komfortablen Gebärmutter auf sie zukommt. Wer seinem Kind das abgewöhnen will, sollte es nicht mit Erzieherei nerven, sondern es mehr lieben (und bei Bedarf selbst lernen, wie das geht). Dann sinkt das Aufkommen von “Kummerspeck” effektiver, als durch Diäten oder Verbote.
Und die fetten Erwachsenen? Und die Millionen anorektisch Hungernden? Ich kann hier nicht alle Menschheitsprobleme lösen. Der Kapitalismus sollte lieber mal erforschen lassen, warum die das tun, um sich instinktiv vor ihm zu “schützen”, ein Akt der Verzweiflung, wenig erfolgversprechend, aber auch nicht so absurd und abwegig, wie die Betroffenen von ihrer Aussenwelt gezeichnet werden.
Um das Verhältnis zwischen der Verantwortung der Einzelnen und ihrem Verhältnis zum Weltsystem da draussen geradezurücken, ist immer wieder die kluge Wienerin Isolde Charim/taz behilflich. Danke, ja, genau richtig! (Wenn Sie das gleiche Thema inhaltlich vertiefend und noch literarischer lesen wollen, empfehle ich Ihnen diesen Textauszug von Jonathan Safran Foer “Resignation oder Widerstand” in den Blättern.) Warum ist Fridaysforfuture so erfolgreich, so sexy? Die Jungen zeigen den Alten, dass sie was kapiert haben. Und dass sie ordentlich was auf die Beine stellen können. Dass sie die Kommunikationsklaviere des herrschenden Systems bedeutend besser beherrschen. Dass sie die Welt ohne Aggression und Mord erobern können. Dass sie dabei die tollsten Menschen kennenlernen, die sie sonst niemals getroffen hätten. Und dass sie dabei – alle! – viel besser aussehen, als all die weltweiten hässlichen Fascho-Drecksäcke und deren Helden und Führer.
Was kann ich, was können wir also tun? Eine erste wichtige Massnahme wäre, das Lieferdienstinternetplattformmonopol zum Teufel zu jagen, weil es alles ruiniert, was für menschliches Leben wichtig und zu verschönern in der Lage ist. Jakob Strobel Y Serra/FAZ erklärte ganz zutreffend (mittlerweile hinter Paywall vermauert), dass Besorgen, Zubereiten und Verzehren guten Essens kein Verlust sondern Gewinn von Zeit ist. Das Erfolgsgeheimnis der klimaverteidigenden Jugendlichen gilt auch hier: Verteidigen wir unsere Lust. Die steigern wir nicht durch Gewohnheit, durch mehr vom industriell-standardisierten Immergleichen, sondern durch Experimentieren, Entdeckung von Neuem.
Zum Glück gibt es schon seit den 80ern dank der damals innovatorischen italienischen Linken die internationale Slowfood-Bewegung, die, ohne hier ein Monopol zu beanspruchen, für den Kampf ums gute Essen und Trinken gesellschaftspolitische Infrastrukturen schafft und weltweit zu verteidigen versucht. Es wird organisationspolitisch eine dramatisch spannende Frage, wie sich die Organisation weiterentwickeln wird, wenn ihr Gründer Carlo Petrini mal nicht mehr da ist. Ich habe ihn zwei, dreimal persönlich getroffen. Kein Prophet, keine Lichtgestalt, ein schlichter, unprätentiöser politisch aussergewöhnlich kluger Kopf, und keine Sekunde, wie es dem deutschen Italienklischee entspräche, geschwätzig. Das gilt auch für seine Kolumne im heute endlich online gestellten deutschen Slowfood-Magazin: “Fangen wir beim Einkaufen an”.
Grosse Verdienste hat sich auch die deutsche Vorsitzende Ursula Hudson erworben. In ihrer Amtszeit hat sich die deutsche Sektion von Slowfood, die zweitgrösste weltweit, behutsam von einer selbstbezogenen Gourmet-Vereinigung zu einer immer politischeren – und dabei nicht zerbrechenden, sondern wachsenden – Organisation gewandelt. Ich bin dort zwar nur Karteileiche, beobachte das Geschehen aber aufmerksam.
Darum zum guten Ende hier noch weitere Hinweise zum neuen Slowfood-Magazin. Online nachlesbar ist Folgendes:
Slow Food Youth: Superfoods – alles andere als super?
Standpunkt von Ursula Hudson: Der Genuss am Klimaschutz
zum Schwerpunktthema Hülsenfrüchte:
Mehr Unterstützung für den Anbau von Leguminosen!
Who is who bei Bohnen, Erbsen und Co.?
Kolumne von Carlo Petrini: Fangen wir beim Einkaufen an
leider nicht online u.a.:
Genussreise Rheinhessen. Weck, Worscht – und viel Woi
Thüringer Projekt: Slow Food im Gefängnisgarten
Kaffee aus Äthiopien: Geröstet an Ort und Stelle
Rheinische Ackerbohne: Heimische Feldfrucht mit Zukunftspotenzial
Und jetzt kochen Sie sich was! Oder gehen Sie Essen, wo sie Wirt*in und Köchin*Koch persönlich kennen.
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