von Viviane de Santana Paulo / Übersetzung: Gaby Küppers
Die politische Kultur des größten Landes Südamerikas verhindert (noch) eine breite soziale Mobilisierung
Frankreichs Präsident Macron ist schwer enttäuscht. Brasiliens Präsident Bolsonaro habe ihn belogen. In Osaka habe er ihm im Juni zugesichert das Pariser Klimaabkommen zu respektieren. Und nun würde riesige Waldflächen in Amazonien brennen, weil Bolsonaro denjenigen, die Amazonien entwalden und landwirtschaftlich nutzen wollen, freie Hand ließe. So haben die Brände wenigstens etwas Gutes, nämlich, dass niemand mehr ignorieren kann, dass Bolsonaro ein Büttel der Landoligarchie ist und seine Zusagen bezüglich Menschenrechten und Umweltschutz, nichts wert sind. Fakt ist, dass das gesamte System Bolsonaro auf Lügen basiert. Dass der in Umfragen stets vor Bolsonaro liegende Luiz Inácio Lula da Silva bei den Wahlen nicht kandidieren durfte, war keineswegs Ergebnis der Ermittlungen einer unabhängigen Justiz, sondern Ergebnis einer von den alten Machteliten inszenierten Kampagne, deren Aushängeschild der Richter und heutige Minister Sérgio Moro war. Dies hat der Journalist Glen Greenwald im Juni auf dem Portal „The Intercept Brasil“ mit zahlreichen Dokumenten belegt. Seitdem wird Greenwald permanent bedroht, auch von Bolsonaro selbst. Im folgenden Beitrag schildert die brasilianische Publizistin und Schriftstellerin Viviane de Santana Paulo die Hintergründe der Kampagne der Rechten und äußert sich sehr pessimistisch zur politischen Kultur Brasiliens.
Seit dem 9. Juni dieses Jahres hat das Portal „The Intercept Brasil“ eine Reihe von Reportagen aus einer anonymen Quelle veröffentlicht, die auf privaten Mitteilungen, Audiomitschnitten, Videos, Fotos und juristischen Dokumenten beruhen und das unethische Verhalten der Task Force „Lava Jato“ enthüllen. Jene Operation „Lava Jato“ (dt. „Autowäsche“) also, die dazu diente, den Ruf des Richters Sérgio Moro als Helden der Nation, als integrem Menschen, als Kämpfer gegen die endemische Korruption in Brasilien zu begründen und zu festigen.
Die Reportagen machten offensichtlich, dass der anklagende Richter im Prozess gegen den Ex-Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, kein objektiver Richter war und auch nicht immer legal agiert hatte. Sérgio Moro legte nahe, bei den Anhörungen in Prozessen der Operation „Lava-Jato“ Angehörige des mit der Sache befassten Bundesinnenministeriums auszutauschen, intervenierte bei Planung und Ausführung von Straftatermittlungen und einstweiligen Verfügungen, schlug dem Bundesanwalt Verfahrensstrategien vor, unterstrich die Notwendigkeit bestimmter Beweismittel, die nur er kannte, um Klagen zuzulassen, und sprach von Urteilen, bevor sie überhaupt gefällt waren usw.
Die einseitige Parteinahme des Richters hatte zum Ziel, Lula aus dem Wahlprozess auszuschließen – und das bei 87 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung und Führerschaft bei den Wahlumfragen. Für Juarez C. dos Santos, einem ehemaligen Professor der Universität von Paraná, warf der Richter Moro Prinzipien des Strafrechts über Bord, um „Lula zu verurteilen und ins Gefängnis zu bringen, in den Präsidentschaftswahlen der politischen Rechten den Wahlsieg zu garantieren und seine eigene Benennung als Justizminister in der neuen Regierung abzusichern“.
Die Enthüllungen aufgrund des von „The Intercept Brasil“ erhaltenen Materials hören damit nicht auf. Die Tageszeitung „Folha de São Paulo“ hat „Chat“-Gespräche analysiert und daraus geschlossen, dass Staatsanwalt Dalton Dellagnol, der mit Moro zusammen arbeitete, ein Projekt im Sinn hatte, mit dem er vorhatte, den guten Ruf von „Lava Jato“ nutzend, mit Vorträgen Gelder einzutreiben, was auch die Veruntreuung öffentlicher Gelder einschloss. Die Idee war, ein Unternehmen im Namen von Familienangehörigen zu eröffnen oder auch ein gemeinnütziges Institut, um ihnen selbst hohe Gebühren zu bezahlen.
Begehrtes Ziel im “hybriden Krieg”
Nun müsste die demokratische und rechtsstaatliche Welt sich eigentlich fragen: Warum ist der aktuelle Minister Sérgio Moro noch im Amt? Hinter dem parlamentarisch-juristischen Putsch von 2016 stehen enorme nationale und internationale wirtschaftliche Interessen. Analysen von Expert*innen zeigen, dass Brasilien seit einigen Jahren das begehrte Ziel im „hybriden Krieg“ ist, die als neue Taktik der USA gilt, um ihre wirtschaftliche Vorherrschaft zu wahren. Sérgio Moro hat sich diesen Plänen angeschlossen, als 2009 das „Bridge Projekt“ die „Zusammenarbeit“ zwischen Zweigen der brasilianischen Judikative und dem Justizministerium der USA auf den Weg brachte. Die derzeitige populistische Regierung der USA, in Trump personifiziert, unterstützt Bolsonaro und Sérgio Moro. Aber nicht nur die USA. Für den Soziologen Jesse Souza ist „der Kampf gegen die Korruption“ immer der hauptsächliche Vorwand der brasilianischen Elite, um selbst den Staat zu korrumpieren und sich dazu öffentliche Unternehmen zu lächerlichen Preisen anzueignen. Das bedeutet, dass der Markt Sérgio Moro unterstützt. Ebenso wie das brasilianische Heer, das im November 2018 das STF (Oberstes Gericht) bedrohte, als General Eduardo Villas Boas zu verstehen gab, dass er beabsichtigte zu intervenieren, falls das STF Lula ein Habeas Corpus zugestände.
Kolonialismus, Sklavenhaltergesellschaft, O Globo, Evangelikale
Zu all dem kommen die für die Bildung der brasilianischen Gesellschaft verantwortlichen folgenden Faktoren: die feste Verankerung in den Prinzipien des Kolonialismus und der Sklavenhaltergesellschaft; die starke Medienmanipulation durch den O Globo-Konzern, und heute auch durch die evangelikalen Kirchen. Die viele Brasilianer*innen, die verkleidet und in die Nationalfarben gehüllt auf die Straßen gegen Dilma Roussef gingen, aufgeblasen von Patriotismus und angestachelt von Antipetismus (gegen die Arbeiterpartei PT – die Red.), vom angeblichen Kampf gegen die Korruption, genau diese Brasilianer*innen halten heute den Mund, sitzen still in ihren Häusern. Obwohl die Familie des aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro in die Milizen verwickelt ist, sein Sohn in das Abzweigen von Regierungsgeldern verstrickt ist und es gerichtsnotorische Fälle illegaler Finanzierung seiner Partei gibt. Und was machen diese Brasilianer*innen? Sie schweigen lieber, als sich einzugestehen, dass sie sich geirrt haben, als zuzugeben, dass die PT verfolgt wurde und weiterhin verfolgt wird.
Die brasilianische Bevölkerung, die ihr Schicksal in die Hände nehmen könnte, ist in Wirklichkeit eine unterwürfige Bevölkerung, die keine Erfahrung im revolutionären Kampf hat, wenn man einmal absieht von den isolierten Aufständen, die niedergeschlagen und liquidiert wurden, wie die Inconfidência Mineira (Minas-Verschwörung), Aufstand der Schneider, Krieg von Canudos, der Paulista-Aufstand von 1924, die Araguaia Guerilla und so weiter. Das waren alles regionale Revolten, getragen von den Menschen vor Ort, aber ohne die Unterstützung der Bevölkerung in anderen Landesteilen. Im Laufe der Geschichte war es einfach, die brasilianische Bevölkerung zu manipulieren, und ist es weiterhin, wegen der hier schon genannten Gründen und des fehlenden Klassen- und nationalen Bewusstseins.
Die Elite orientiert sich an ausländischen Werten und Verhaltensweisen, die sie glauben machen, nicht zum Land zu gehören. Die Mittelklasse identifiziert sich fälschlicherweise und komplexbehaftet mit der Elite, die sie ausbeutet. Die Mittelklasse ist die Feindin der armen Klasse, und die arme Klasse wird von allen niedergedrückt.
Sprachlose Linke
Gleichzeitig ist die brasilianische Linke gespalten und sprachlos. Sie schafft es nicht im mindesten, eine Oppositionsstrategie aufzubauen, sondern verharrt zusammenhanglos, uneinig, ist irgendwie naiv und verliert sich in Diskussion über Identitäts- und Genderfragen, statt den größten und gemeinsamen Feind zu bekämpfen: den ungebremsten neoliberalen Kapitalismus und den Verlust von Arbeitnehmer*innenrechten. Einmal mehr erweist sich die brasilianische Linke als zu schwach. (Warum wird eigentlich immer wieder so getan, als ob ich Genderfragen und gemeinsamer Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus ausschließen würden, ich finde, dass sich beides gegenseitig bedingt – d. Säz.)
In jedem minimal demokratischen und rechtsstaatlichen Land wäre Moro längst aus dem Amt gejagt. Kürzlich brachten in Puerto Rico die Enthüllungen von Gesprächen auf der Plattform Telegram die Puertoricaner*innen auf die Straße, um gegen diskriminierende, beleidigende, obszöne, machistische, homophobe und den Opfern des Hurrican Maria 2017 respektlose Aussagen zu protestieren. Der Gouverneur Riccky Rosselló musste zurücktreten und kann wegen Korruption juristisch angeklagt werden.
Mit den Enthüllungen der Audiomitschnitte in „The Intercept Brasil“, unter Beteiligung von „Folha de Sao Paulo“, „Veja“ und „El Pais“, wurde bewiesen, dass es bei den Wahlen von 2018 in Brasilien Betrug gab und das das Land ernsthaft Schaden genommen hat. Arbeitslosigkeit, Gewalt, der Einsatz von toxischen Düngemitteln haben zugenommen, der extreme Hunger kam zurück, im Bildungsbereich waren die Kürzungen verheerend, praktisch alle Sozialprogramme wurden gestoppt. Ganz zu schweigen von der dringenden Frage der Lage der Indigenen und der Umwelt. Die Endwaldung Amazoniens und die Gewalt gegen die Ureinwohner*innen hat seit dem Amtsantritt Bolsonaros zugenommen, schon lange bevor die gelegten Brände diese Entwicklung noch einmal beschleunigt haben.
Wo ist der Respekt vor sich selbst?
Zweifellos wird die Infrastruktur des Landes untergraben. Indessen bleibt Moro auf seinem Posten, gestützt von Bolsonaro, der, nachdem er seine umfassende Inkompetenz als Präsident eines der größten Länder der Erde und der größten Wirtschaft Lateinamerikas unter Beweis gestellt hat, weiterhin an der Macht ist.
Unglücklicherweise ist der größte Skandal in Brasilien nicht unverschämte Korruption, Charakterschwäche, vulgäre Entgleisungen und Banditentum der Politiker*innen, sondern die brasilianische Gesellschaft selbst, die sich als krank, töricht und unfähig erweist, Respekt vor sich selbst durchzusetzen. Wie lang noch wird die Bevölkerung das aushalten? Wie lange wird Brasilien das aushalten?
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 429 Okt. 2019, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Indormationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
Letzte Kommentare