Nun sind sie beschlossen, die Neuwahlen in Großbritannien am 12.12.2019. Nachdem die Liberalen und die schottischen Nationalisten am Montag signalisiert hatten, dass sie wie Boris Johnson für Neuwahlen votieren würden, konnte sich Labour nicht mehr gegen den Druck wehren: Sie stimmten heute kurzfristigen Neuwahlen zu. Damit hat Johnson sein Ziel erreicht, mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts, das bekanntermaßen die Mehrheiten stark verzerrt, weil selbst starke Minderheiten von 49% völlig unter den Tisch fallen, den Brexit doch noch zu seinen Bedingungen durchziehen zu können.
Opportunismus aus Kalkül
Das Verhalten von SNP und Liberalen ist dabei durchaus so opportunistisch wie kalkuliert. Sie stehen in Umfragen für britische Verhältnisse recht gut da, mit bis zu 30%, und wollen diesen Rückenwind nutzen, um ihre Wahlergebnisse zu verbessern. Dieser Logik folgend können sie natürlich nur, solang der Brexit noch nicht vollzogen ist, ihren Wähler*innen die Illusion vermitteln, die Wahlstimme für Liberaldemokraten oder SNP sei gleichzeitig ein Votum für den Verbleib in der EU. Vergleichsweise schlecht geht es nach den Umfragen Labour. Ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn ist bei der Jugend zwar ähnlich beliebt, wie Bernie Sanders in den USA, aber er wird aus der eigenen Partei permanent als linker und schwache Persönlichkeit diffamiert. Auch deshalb ist es völlig unwahrscheinlich, dass es zwischen Liberalen Demokraten und Labour zu Absprachen über Wahlkreise kommen könnte, um insgesamt erfolgreich gegen Johnson und die Konservativen eine strategische Koalition der ernsthaften Chancen zu bilden. Johnson kann sich derzeit in guten Umfragen sonnen und hat seine Partei so radikal von gemäßigten Konservativen bereinigt, dass er nach der Wahl wahrscheinlich einem noch härteren Brexit entgegen gehen kann.
Gerade die vom alten Parlament durchgesetzte Verschiebung des Austrittsdatum wird ihm die Möglichkeit geben, über das ja nicht beschlossene Austrittsabkommen hinaus zu gehen und auch das vom Parlament verabschiedete Gesetz, dass es keinen “No-Deal-Brexit” geben darf, kann er mit möglicherweise neuen Mehrheiten der Tories wieder aufheben. Auch ein zweites Brexit-Referendum, das viele Liberale und ein Teil der Labour-Politiker wollten, wird es im Falle des wahrscheinlichen Wahlsieges Johnsons keinesfalls geben. Auch die strategisch wichtige Herabsetzung des Wahlalters, die Labour und Liberaldemokraten überlegt hatten, wurde nicht mehr beschlossen, weil es offensichtlich bei der Opposition keine strategischen Köpfe gibt.
Corbyn ohne Strategie, Opposition mit leeren Händen
Corbyn hat offensichtlich kein Mittel gefunden, um dem wochenlangen Affentanz Johnsons, der ohne jegliche Mehrheit das Parlament am Nasenring durch die Arena zog und zu immer neuen harten Brexitkapriolen unter Zugwang setzte, ein Ende zu bereiten. Dabei hätte er dem offensichtlichen Lügner und Schaumschläger doch das Heft des Handelns aus der Hand nehmen können. Wenn ihm klar war, dass er selbst keine Mehrheit zur Wahl zum Premierminister erhalten würde, wäre es doch zumindestens eine realistische Variante gewesen, gemeinsam mit der SNP die Vorsitzende der Liberalen, Jo Swinson zur Premierministerin einer Mehrheit des Parlaments vorzuschlagen, die die Geschäfte und eine Koalition bis zu einer Neuwahl und Durchführung eines möglicherweise zweiten Referendums hätte führen können. Nur so wäre es auch möglich gewesen, den Kurs der Diskreditierung des Parlaments durch Johnson ein Ende zu bereiten. Aber diese strategische Phantasie hatte die Oppositionsmehrheit offensichtlich nicht.
Deshalb wird es nun unausweichlich zum Brexit kommen, die Tories werden ihre neoliberalen Vorstellungen mit neuen Lügen über angebliche Segnungen für die Bevölkerung umsetzen können. Dass sich Europa bisher durch kluges Schweigen über die zu erwartende Politik eines ausgetretenen Großbritanniens zurückhält, wird sich schnell ändern müssen, wenn das eingeleitet wird, was Johnson, Farage und Rees-Mogg im Schulterschluss mit Trump vorhaben: Britannien zu einer riesigen Steueroase nach dem Vorbild der Isle of Man oder Panamas zu machen, um von Kapital- und Steuerflucht aus Europa zu profitieren, den eigenen Binnenmarkt und alle Arbeitnehmerrechte rücksichtslos zu deregulieren und gleichzeitig noch die Finanzmärkte und Börsen in Europa zu dominieren. Insofern wird uns allen Herr Johnson in den kommenden Jahren noch viel Sorge bereiten.
Kann Farage Johnson noch zum Stolpern bringen?
Die einzige Frage, die einen Wahlsieg Johnsons aus heutiger Sicht noch offen erscheinen lässt, ist die Unsicherheit, wie sich die Brexit-Partei UKIP von Nigel Farage verhalten wird. Tritt sie zur Wahl an, kann es dazu kommen, dass sie ähnlich wie sich Labour und Liberaldemokraten gegenseitig zugunsten der Tories in Wahlkreisen marginalisieren könnten, diese durch die Kandidaturen von UKIP geschwächt werden könnten. Doch die Brexiteers werden, so ist jedenfalls aufgrund der Vergangenheit zu vermuten, strategischer vorgehen, als die EU-Befürworter. Denn sie werden nicht nur durch internationale Kapitalquellen unterstützt, wie Nigel Farage, sondern möglicherweise auch wieder in diesem Wahlkampf durch Manipulationstechniken der Nachfolger von Cambridge Analytica und Kräften vom Kaliber des rechtspopulistischen Ideologen und Breitbart-Gründers Stephen Bannon – und natürlich von der “SUN” des Murdoch-Imperiums.
Strahlendes Licht im dunklen Schatten
Eine Anlayse der Situation ist das eine – die Dankbarkeit für viele Monate der lehrreichen Betrachtung des englischen Parlamentarismus und Regierungssystems eine andere. Dieser Artikel darf nicht enden, ohne einen Dank und eine Hommage an den Speaker des britischen Parlaments, John Bercow. Mitglied der konservativen Partei und Held des demokratischen Parlamentarismus. Seine “Oooordeeeer!” Rufe sind inzwischen so legendär wie sein Humor und seine weise und entwaffnend freundliche Art, unter Rückgriff auf die Geschichte des ältesten Parlaments bis ins 17. Jahrhundert die parlamentarische Kultur und ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen Herrschaftsformen zu stärken. Ihm gebührt das Verdienst, die parlamentarische Demokratie aus einer ihrer tiefsten Krisen hinaus zu einigen ihrer Sternstunden geführt zu haben. Und das macht Mut – trotz alledem und alledem.
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