von Peter Wahl
Macrons Rentenreform – Zu den Hintergründen der Streik- und Protestbewegung in Frankreich
Seit 5. Dezember erlebt Frankreich die größte Streik- und Protestwelle seit einem Vierteljahrhundert. Nachdem die Bewegung der Gilets Jaunes (Gelbwesten), die vor einem Jahr das Land monatelang in Atem gehalten und Macron und seine Regierung erschütterten, gehen die sozialen Auseinandersetzungen jetzt in eine neue Runde.
Zu deren Merkmalen gehört, dass es jetzt zu der „convergence des luttes“, zur Bündelung der verschiedenen Protestbewegungen kommt. Gewerkschaften, Gilets Jaunes, linke Parteien, Verbände, Attac, NGOs, Künstler, Intellektuelle, Bauernverbände haben zu gemeinsamem Streik und Protest aufgerufen. Der Bahnverkehr, der ÖPNV, darunter die Pariser Metro, stehen still. Lehrer, Krankenhauspersonal, Rechtsanwälte, Studenten, weite Teile des öffentlichen Dienstes sind in Streik getreten. Flächendeckend kommt es zu Demonstrationen und Protestaktionen, an denen sich schon am ersten Tag zwischen einer halben und einer Million Menschen beteiligten.[1] In konzentrierter Form bricht sich jetzt Bahn, was sich in den vergangenen Jahren an Unzufriedenheit, Enttäuschung und Kritik angestaut hatte.
Frankreich fühlt sich seit langem verunsichert und in der Krise. Das politische System ist viel stärker durcheinandergewirbelt worden, als bisher das deutsche. Le Pen hat seit langem eine Stammwählerschaft von gut 20 Prozent, die französische Sozialdemokratie ist noch tiefer abgestürzt als die SPD, und im Vergleich zu den französischen Konservativen, Les Républicains, geht es CDU/CSU geradezu blendend. Dazu kommen lange und hohe Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, von der die Jungen ganz besonders betroffen sind, die Verschlechterung von öffentlichen Dienstleistungen durch Privatisierungen und die Terroranschläge.
Das Vertrauen in die Politik ist daher schon seit einiger Zeit auf einem Tiefpunkt. Das Meinungsforschungsinstitut CIVOP Opinionway, das seit Jahren regelmäßig die Stimmungslage der Nation untersucht, kommt in seiner Umfrage für 2018, die noch vor Beginn der Proteste der Gilets Jaunes erhoben wurden, zu Ergebnissen, die der Figaro treffend als „Tsunami an Misstrauen“ gegenüber den Eliten und dem repräsentativen System bezeichnete.[2] Und auch Macrons persönliche Umfragewerte sind von 57% im Januar 2017 auf 27% Anfang Dezember 2019 abgestürzt.[3] 70% der Franzosen vertrauen diesem Präsidenten also nicht. Die gegenwärtigen Proteste stoßen denn auch Umfragen zufolge bei gut zwei Dritteln der Bevölkerung auf Sympathie. Macron, zu Beginn seiner Amtszeit als Hoffnungsträger gehypt, hat auf ganzer Linie enttäuscht – die Lichtgestalt ist entzaubert.
Bemerkenswert ist auch, dass die klassischen Akteure von Sozialprotesten, die Gewerkschaften, dieses Mal wieder eine führende Rolle spielen.[4] So titelte denn auch die FAZ: „Der Schnauzbart ist zurück.“[5] Gemeint ist damit der Chef der CGT, Philippe Martinez, der einen Schnauzbart nach Art von Asterix trägt. Wer gedacht hatte, dass mit den Gilets Jaunes die Zeit der Gewerkschaften vorüber sei, muss sich korrigieren. Die Volatilität und Unvorhersehbarkeit politischer Entwicklungen zeigt sich auch hier. Allerdings verdankt sich die Massivität der aktuellen Proteste auch der Vorarbeit durch die Gilets Jaunes. Diese hatten nach wenigen Wochen die Regierung zu Zugeständnissen in einem Volumen von über 10 Mrd. Euro gezwungen. Solche Erfolge waren jahrelang vorher nicht mehr möglich gewesen. Die Gilets Jaunes haben gezeigt, dass man durch die Straße etwas erreichen kann, und haben damit den neuen Protesten Rückenwind verliehen.
Und last not least bekräftigen die Aktionen dieser Tage, was auch die Gilets Jaunes schon deutlich gemacht hatten: die soziale Frage bleibt weiterhin zentral. Eine Klima- und Umweltpolitik, die das ignoriert, wird über kurz oder lang scheitern.
Rentenfrage im Zentrum
Im Zentrum des Protests stehen die Renten. Auf diesem Terrain konnten die Franzosen im Vergleich zu den anderen Ländern des kapitalistischen Zentrums den Sozialstaat gegen die neoliberalen Attacken der letzten Jahrzehnte noch einigermaßen verteidigen. So hatte es schon 1995 unter Chirac wochenlange Streiks gegeben, sodass sich die Regierung lange nicht mehr traute, an dem Thema zu rühren. Daher liegt der Anteil der französischen Rentenaufwendungen noch immer bei 14% des BIP, gegenüber 12% im EU-Durchschnitt. Die statistische Durchschnittsrente liegt heute bei 1.422 Euro monatlich, wobei es einen deutlichen Unterschied zwischen Männern mit 1.933 Euro und Frauen mit 1.123 Euro[6] gibt. Auch ist die Finanzierungslücke, die durch den Staatshaushalt gedeckt werden muss, mit 2,9 Mrd. Euro (0,1% des BIP) relativ gering. 2010 belief sie sich noch auf 0,5% des BIP.[7]
Allerdings hat es dann doch einige Einschnitte gegeben, wie 2010 unter Sarkozy die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 für die nach 1955 Geborenen, und danach die Erhöhung auf 64 Jahre für die nach 2000 Geborenen. Das tatsächliche Rentenalter lag 2017 bei 62 Jahren und einem Monat, aber unterm Strich ist die Lage der Rentner in Frankreich noch um eine Größenordnung besser als in Deutschland. Selbst für die aktuelle Reform wird immerhin auch eine Mindestrente von 1.000 Euro vorgeschlagen. Davon können viele Rentner in Deutschland nur träumen.
Das bisherige Rentensystem der Franzosen kommt nicht nur den Rentnern zugute, sondern trägt unter makroökonomischen Gesichtspunkten auch zur Verbrauchernachfrage bei. Insofern ist es auch eine Stütze des französischen Wirtschaftsmodells, das im Unterschied zum deutschen weniger exportabhängig und stärker binnenmarktorientiert ist. Und im Krisenfall hat es den Vorteil, als sog. automatischer Stabilisator zu funktionieren, d.h. dazu beizutragen, dass die Nachfrage nicht völlig einbricht – wie beim Finanzcrash 2008 auch geschehen. Allerdings werden diese makroökonomischen Aspekte, wie immer, wenn die Neoliberalen von Sozialreformen reden, unterschlagen.
Macrons Projekt liegt noch nicht in Form eines geschlossenen Konzepts oder gar eines Gesetzesentwurfes vor, sondern es wurden bisher nur Eckpunkte verkündet. Dahinter steckt eine Salamitaktik. Um zu verhindern, dass alle betroffenen Gruppen zugleich reagieren, sollte das Projekt zeitlich gestreckt werden – klassisches divide et impera. Das Kalkül ging aber nicht auf.
Ein neoliberales Punktesystem
Von den bisher bekannt gewordenen Vorschlägen der Regierung ist der folgenreichste die Einführung eines Punktesystems als Grundlage für die Rentenanwartschaft. Die bisherigen Regeln für die Privatwirtschaft sehen vor, dass die Rente auf Grundlage der 25 bestbezahlten Arbeitsjahre berechnet wird. Sie beträgt dann 50% des auf dieser Basis errechneten Durchschnittslohns. Bei Beamten werden die letzten sechs Monate der Beschäftigung herangezogen, die entsprechend dem staatlichen Beförderungssystem auch immer die bestbezahlten sind. Die Höhe der Rente beläuft sich dann für Staatsdiener auf 75% des letzten Gehalts.
Das soll nun durch ein Punktesystem ersetzt werden, in dem die gesamte Beschäftigungszeit ohne weitere Gewichtung zur Grundlage genommen wird. Während bei dem alten System schlechte Jahre oder Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit, Fortbildung oder Mutterschaft, die die Rentenansprüche drücken, aus der Berechnung rausfallen, werden sie jetzt einbezogen. Besonders betroffen sind dadurch Frauen, prekär Beschäftigte und Langzeitarbeitslose.
Auch bei den Beamten wird es viele Verlierer geben. So fallen mit dem Punktesystem z.B. die Zulagen weg. In manchen Bereichen konnten magere Grundgehälter durch Zulagen auf ein angemessenes Niveau gebracht werden. Durch deren Wegfall werden z.B. Grundschullehrer nach Berechnungen der Lehrergewerkschaft FSU, die unter Einbeziehung der Zulagen derzeit auf 2.800 Euro Rente kommen, dank Punktesystem mit ca. 1.000 Euro weniger auskommen müssen.[8]
Auch hier ignorieren die neoliberalen Reformer die gesamtgesellschaftlichen Effekte. So gibt es angesichts der jüngsten Pisa-Zahlen, wonach die französischen Schüler nur mäßig abschneiden, eine heftige Diskussion, wie die Lage wieder verbessert werden kann. Auch wenn die Methodik der Pisa-Studien selbst in mancher Hinsicht von neoliberalem Geist getrübt ist, so ist doch richtig, dass Bildung im 21. Jahrhundert über ihren Eigenwert für die Persönlichkeitsentwicklung hinaus für eine rohstoffarme Volkswirtschaft auch ökonomisch einen enormen Stellenwert hat. Dass die Attraktivität des Lehrerberufs dennoch derart heruntergefahren wird, zeigt einmal mehr, dass diese neoliberalen Reformen alles andere als zukunftsfähig sind.
Hinzu kommt, dass der Geldwert der Punkte keineswegs feststeht, sondern Jahr für Jahr von einer Kommission neu festgelegt werden soll. In dessen Bewertung sollen Konjunktur, staatlicher Haushaltssituation und andere relevante Faktoren, z.B. die demographische Entwicklung und Veränderungen der Lebenserwartung einfließen. Das bringt ein hohes Maß an Ungewissheit und Unsicherheit in das System. Ein Beispiel: gegenwärtig werden Lücken in der Rentenfinanzierung durch Zuschüsse aus dem staatlichen Budget geschlossen. Mit der Verpflichtung aus dem Stabilitätspakt der EU, die „Schwarze Null“[9] in den Verfassungen der Mitgliedsländer zu verankern, können dann zukünftig mit dem Verweis auf EU und Verfassung Zuschüsse verweigert und Rentenkürzungen als alternativlos verkauft werden. Mit der jährlichen Bewertungsprozedur steht ein Instrument bereit, mit dem die jetzige Aushöhlung des Rentensystems zukünftig weiter beschleunigt werden kann. Gewinner werden dagegen die Unternehmer sein. Denn da das Rentensystem unterm Strich billiger wird, sinkt auch ihr Anteil an der Finanzierung.
Fadenscheinige Rechtfertigungen
Äußerst fadenscheinig ist Macrons Hauptargument, mit dem er sein Projekt rechtfertigt: es gehe darum, die derzeit verwirrende Vielzahl von 42 Rentensystemen zu vereinfachen und durch ein einziges zu ersetzen. Dadurch entstünden mehr Transparenz und Gerechtigkeit, indem ein angeblicher „Wildwuchs an Privilegien und Sonderrechten“[10] beseitigt würde.
Tatsache ist, zu den 42 bestehenden Systemen kommt zunächst einmal das 43. dazu – falls Macron sich durchsetzt. Denn da er inzwischen einsehen musste, dass ihm die Kräfteverhältnisse nicht erlauben, das System auf einen Schlag umzukrempeln, soll die Umstellung in mehreren Etappen erfolgen. Die letzte wird in 44 Jahren (in Worten: vierundvierzig) abgeschlossen sein. Dann nämlich, wenn die nach 2000 Geborenen das Rentenalter von 64 Jahren erreicht haben.
Was die „Privilegierten“ angeht sind damit nicht Besserverdiener gemeint, die sich private Versicherungen leisten können, und schon gar nicht die Reichen und Superreichen, sondern Lokführer und Busfahrer. Deren „Privilegien“ bestehen darin, bereits mit 55 Jahren aufhören zu können, so sie es denn wünschen. Unter Sicherheitsaspekten bei öffentlichen Verkehrsmitteln ist das eigentlich eine sinnvolle Regelung. Und für das Gesamtproblem eine quantité négligeable, denn der Anteil dieser Ausnahmen liegt unter einem Prozent.[11]
Wie geht es weiter?
Die Streiks sind unbefristet. Allerdings muss jeden Tag an der Basis darüber entschieden werden, wie es weitergeht. Insofern sind Prognosen riskant. Die Situation ist sehr dynamisch und ihr Ausgang offen. Zu erwarten ist, dass die Regierung rasch mit Vorschlägen kommt, die ein paar Zugeständnisse enthalten und auf die Spaltung der Bewegung zielen. MAKROSKOP wird jedenfalls in den nächsten Tagen weiter am Ball bleiben und über die Entwicklung bei unseren Nachbarn informieren.
Fussnoten:
[1] Es gehört zu den Ritualen französischer Politik, dass bei Demonstrationen die Zahlen der Behörden und der Veranstalter extrem weit auseinander liegen. Die CGT meldete für den 5. Dezember 1,4 bis 1,5 Millionen Teilnehmer, Le Monde sprach unter Heranziehung von Polizeiangaben von mehr als einer halben Million.
[2] Le Figaro, 11.1.2019; S. 2/3
[3] Le Figaro online; 4.12.2019. https://www.lefigaro.fr/politique/sondage-emmanuel-macron-au-pied-du-mur-20191204
[4] Mit Ausnahme der Zentrale der sozialdemokratische CFDT riefen alle großen Gewerkschaften zum Streik auf. Allerdings widersetzte sich die CFDT-Branchenabteilung für die Bahn ihrer Zentrale und beteiligt sich am Streik.
[5] FAZ, 22.12. 2019, S. 22
[6] Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass ein Teil der Renten Hinterbliebenenrenten für Witwen sind. Wenn man das herausrechnet vermindert sich die Differenz um ca. die Hälfte.
[7] Le Monde, 2.12.2019 online: https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2019/12/02/reforme-des-retraites-48-questions-pour-comprendre-le-debat_6021344_4355770.html
[8] L’Humanité 5.12.2019. https://www.humanite.fr/videos/le-decryptage-des-arnaques-de-la-reforme-des-retraites-681316
[9] Im Französischen heißt sie règle d’or = goldene Regel, womit den neoliberalen Ideologen ein besonderer PR-Coup gelungen ist.
[10] Tagesschau online. 05.12.2019 https://www.tagesschau.de/ausland/generalstreik-frankreich-107.htm
[11] Le Monde a.a.O.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von makroskop.eu, mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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