Die Verabredung mit einer guten Freundin zum vorweihnachtlichen Essen am vergangenen Freitag entwickelte sich für mich wider Erwarten zu einem sehr persönlichen Erlebnis und einer Konfrontation mit meinem alltäglichen Handeln. Ich habe in meiner Zeit im Landtag NRW die rassistischen Anschläge auf Flüchtlinge und Migranten in Rostock, Hünxe, Solingen und anderswo erlebt, war für dieses Thema in der Grünen Fraktion zuständig und habe viele erfolgreiche, aber auch vergebliche Versuche erlebt, Migrant*innen zu helfen. Unvergessen der Petitionsfall einer zwölfjährigen aus Bonn, deren Großvater, bei dem sie lebte, seit 26 Jahren bei den Stadtwerken Bonn arbeitete,sie aber abgeschoben werden sollte. Weil ihr Vater gestorben, die Mutter wieder geheiratet aber mit beiden Söhnen nach Marokko zurückgekehrt war – der neue Vater wollte die Tochter nicht annehmen. Auf meine Frage, ob ihm klar sei, dass das Kind durch die Abschiebung zum Straßenkind würde, antwortete der damalige Ausländeramtsleiter nur “dort gibt es doch gar keine Straßen.” Felix von Grünberg saß mit am Tisch – uns beiden blieb vor soviel Zynismus die Spucke weg.
Vor vierzig Jahren geflohen
Aber selten war ich so persönlich berührt und betroffen, wie am vergangenen Freitag in meinem bevorzugtes Stammlokal leckeren und gesunden Essens, dem vietnamesischen Restaurant “Saigon”, Sachsenweg in Bonner-Altstadt. Nach dem Essen, über das ich an anderer Stelle berichte, setzte sich die Küchen- und Restaurantchefin zu uns an den Tisch. Wir sind seit über 25 Jahren befreundet, unsere Töchter gingen gemeinsam in die Schule.
Was dann passierte, machte mich weitgehend stumm. Beide Frauen, kaum einander vorgestellt, erzählten sich wie zufällig ihre Fluchtgeschichten. Meine Begleiterin, Iranerin, war politisch aktiv wie ihre ganze Familie. Sie ist deshalb 1979 vor Khomeini und den Mullahs geflohen, ein Bruder wurde ermordet. Der steinige Weg zu Fuß ging über das Atlasgebirge und die Osttürkei nach Deutschand. Sie erzählte, wie sie mittels Schleppern damals die eiskalten Gebirgspfade überwinden mussten und dass es Schlepper gab, die ihre “Kunden” – die Gelder wurden im voraus kassiert – in einsamen Gebirgstälern der Osttürkei verhungern und erfrieren ließen – eine Bergwacht, die rettet, gibt es da nicht. Es war beschwerlich, bis sie letztlich in Westberlin ankam.
Die aus Vietnam Geflohene erzählte, wie sie im selben Jahr aus dem südchinesischen Meer gerettet wurde – von einem deutschen Frachter, der die Route Hamburg- Japan befuhr. Ihr späterer Mann wurde von der “Kap Anamur” gerettet. Beide hatten Glück, berichtete sie, denn auch damals waren im südchinesischen Meer Piraten aktiv, die Flüchtlinge wie sie überfielen, ausraubten, die Frauen vergewaltigten und an Thailändische Bordelle verkauften. Also genau das Geschäft, was die sogenannte “Lybische Küstenwache” ausgerüstet mit Booten und Waffen und Geldern der EU heute in Nordafrika betreibt. Sie schilderte, wie willkommen sie damals in Deutschland war – schließlich waren die “Boat People” vor den bösen Kommunisten Ho Chi Minhs aus Nordvietnam geflüchtet. Sie wurden als Kontingentflüchtlinge zunächst nach Singapur gebracht und dann vor dort aus nach Frankfurt eingeflogen. In Niedersachsen erwarteten sie Häuser und Wohnungen, Sprachkurse, jede erdenkliche Hilfe bei der Integration und liebevolle ehrenamtliche Betreuer*innen. Und natürlich das ewige Lächeln des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht, Vater von Ursula von der Leyen, der die Aufnahme betrieben hatte.
Nichts vergessen
Beide können nicht verstehen, wie sich dieses Land verändert hat. Vierzig Jahre leben sie jetzt hier, haben selbständige Existenzen aufgebaut, Kinder groß gezogen, deutsche Staatsbürger geworden und müssen nun zusehen, wie der Rassismus wieder aufblüht. Auf meine Frage, was sie empfinde, wenn sie in den Fernsehnachrichten Flüchtlinge auf Booten im Mittelmeer sehe: “Da kommt alles wieder hoch, die Angst vor dem Verdursten, die Hitze, zu ertrinken und vor den Piraten, verschleppt, vergewaltigt zu werden oder schlimmeres – das kann ich nicht vergessen.” Ich wußte bis dahin nicht genau, was sie erlebt hatte, sie hat nie darüber gesprochen. Ich wusste auch nicht, dass Khomeinis islamistische Schergen schon 1979 Frauen, die gegen den Schah gekämpft hatten und sich weigerten, einen Schleier zu tragen – die Aufforderung dazu zunächst für einen schlechten Witz hielten – von dessen schiitischen Banden durch die Straßen Theherans getrieben und sexuell genötigt und / oder zu Tode geprügelt wurden.
Meine Tochter hat mich heute scherzhaft gefragt, warum wir als Nichtchristen eigentlich Weihnachten feiern. Ich meine, man muss nicht an einen Gott glauben, um dieses Fest als eines zu leben, das die Menschen am Jahresende durch Innehalten einander näher bringt. Sie lehrt, die Nächsten als einmalige Individuen mit unveräußerlichen Rechten anzuerkennen, anzunehmen und zu spüren, dass Nächstenliebe um so vieles stärker ist, als Hass, Ablehnung, Vorurteile, Angst vor dem Fremden und Raffgier. Und Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit megastarke Waffen gegen religiöse oder ideologische Verblendung sind. Robert Habeck hat vorgeschlagen, nur ein paar tausend hungernde und frierende Flüchtlingskinder aus Lagern in Griechenland aufzunehmen. Irgendwelche Bürokraten, die ihre Partei “christlich” nennen, haben diesen Vorschlag als “nicht hilfreich” abgetan. Fertig war der Parteienstreit über Humanität. Auch deshalb sollten wir Weihnachten richtig feiern!
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