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Der alte Mann, der die Straße entlanghumpelt, stoppt vor der Post. Mit zitternder Hand hält er zwei orange gerasterte Zettel in die Höhe. „Ich will doch nur die Überweisung.“ Fassungslos fixiert er die Schlange vor der Stahltreppe hinauf zum Eingang und wendet sich dem jungen Mann mit Migrationshintergrund in gelber Schutzweste zu, der das Geschehen von oben dirigiert. „Nur die Überweisung“ wiederholt er und präsentiert seine Zettel wie Passierscheine.

Seine weißen Haare umtanzen ihn wie ein Strahlenkranz. „Die wollen da nicht mehr als vier Leute drinhaben. Wegen Ansteckungsgefahr“, erkläre ich dem geschockten Senior. Der Security-Löwe weist mit dem Finger in die Ferne. Die dunklen Augenhöhlen des Alten weiten sich zum Medusenblick, als er sieht, dass sich die Reihe der Abstandshalter bis zum Eingang des Alnatura-Markts um die Straßenecke zieht. Er beginnt, unkontrolliert mit den Armen zu schlagen. „Polizei kommt“, versucht sich der Treppenwächter zu rechtfertigen, „paarmal schon, messen jeden Meter“, und zuckt mit den Schultern.

Jahrzehntelanges Probewarten auf das neue iPhone und vor dem Eingang am Berghain, in Lichter- und Menschenketten hat Deutschland auf die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gut vorbereitet. Wahrscheinlich reihen sich deshalb jetzt fast alle so klaglos zur morgendlichen Schlange, auch wenn sie hier niemanden an den Händen halten dürfen. Trotzdem steckt meinen Mitstehern eine gewisse Scham in den Klamotten, zu Statisten in einer Szenerie genötigt zu werden, die an das Regiment der Mangelwirtschaft mehr als an den Mäander der Spektakelkultur erinnert, der sich einst um die Nationalgalerie mit den Schätzen des MoMA wand.

„Wie früher, als wir für Bananen angestanden haben“, seufzt eine ältere Dame im dunkelblauen Kostüm. „Krass, guck dir das an“, ruft ein Fahrradfahrer seiner Freundin zu. Ungläubig bestaunen sie die um die Stahlpoller gewundene Serpentine wie das Skelett eines Dinosauriers im Naturkundemuseum. Mir gefällt diese soziale Plastik gewordene Absage an die schnöde Gerade. Schönheit ist eine Schlangenlinie, freut sich der Kritiker in mir, als ich wieder anderthalb Meter vorrücke.

Natürlich versuchen immer wieder ein paar dieses zum XL-Monster gestaute Distanzgebot zu unterlaufen. „Schlange ist Schlange, Filiale, Filiale“, wächst der Glatzkopf in weißer Tunika, der hier jeden Tag mit servilem Lächeln den „Querkopf“ verkauft, aus der Rolle des Gabenempfängers in die des Hilfssheriffs, als er eine Frau mit Sonnenbrille anherrscht, die sich mit einem gemurmelten „Nur schnell mal was fragen“ vordrängeln will. „Bettruhe bei nationalem Fieberwahn“ steht auf seinem Fahrradkorb.

„Komm hoch!“, ruft mir der echte Sheriff von der Rampe zu, als er mich in der Schlange erblickt. „Ich will mich nicht vordrängeln“, wehre ich ab. „Postfach, Blindenausweis, Geldautomat. Kann rein. Das entscheide ich“, entgegnet er. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Ich will nicht lügen. Zu Beginn des Coronozäns war auch ich von dem Schlangenritual genervt. Dann fügte ich mich in das Unvermeidliche, trat jeden Tag neu symbolisch der Solidargemeinschaft im Leid bei. Nach ein paar Tagen hatte sich dann eine Art Herdenimmunität gegen das Virus Ungeduld gebildet. In stummem zivilem Gehorsam, die Köpfe auf das Smartphone gesenkt, Pakete unter dem Arm, Mundschutz über der Nase, warten wir alle auf den Gang zum Schalter.

„Wir kommen schon durch, paar Wochen noch“, murmelt mein Vordermann, als er sich dreht und die Nase in die Sonne reckt. „Dauert lange“, sagte der junge Mann auf dem Treppenabsatz, ohne aufzuschauen. Abgebrüht wie ein alter Veteran im Schützengraben winkt er den Nächsten hoch.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).