Heute fand sie also statt, die von allen möglichen Forderungen nach Rücknahme der Grundrechtsbeschränkungen vorab belastete Konferenz von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten der Länder. In vielen Jahren politischer Arbeit habe ich mir angewöhnt, bei wichtigen Auftritten bestimmter Akteure mehr auf Haltung, Tonlage und Körpersprache zu  achten, als auf den Inhalt, besonders wenn zu besorgen ist, dass dieser nicht die wirklichen Geschichten erzählt, sondern verabredete Sprachregelung zur Gesichtswahrung der Beteiligten verkündet. Nach vielstündiger Videokonferenz, deren Inhalt unschwer zu erahnen ist, setzte sich die Kanzlerin mit Tschentscher und Söder vor die Bundespressekonferenz und gab ihr Statement in einer Haltung und Tonlage ab, die sich fundamental von den bisherigen Pressekonferenzen in der Corona-Krise unterschied.

Bisher hatte sich Angela Merkel – nicht zuletzt, weil sie als Naturwissenschaftlerin und Politikerin die Zusammenhänge ganz anders einordnen kann, als ihre Kolleg*innen aus den Ländern – quasi das Management der Krise als persönliche Verantwortung angenommen hat. Ihre Körpersprache und Diktion auf früheren Konferenzen strahlte aus, dass sie sich den Schutz der Gesundheit und die Kontrolle über das Virus, um es einzudämmen quasi zueigen machte und an alle Bürger*innen mit all ihrer Überzeugungskraft appellierte, ja sie geradezu beschwor, mitzuziehen bei den Anstrengungen, die Ansteckungen zu vermindern, Abstände einzuhalten und Disziplin zu wahren – weil uns das Virus natürlich noch mindestens bis in die kommenden zwei Jahre bedrohen wird. Ganz anders heute: Die Bundeskanzlerin trat mit ihrem “Macht-doch-Euren-Scheiß-alleine-Gesicht” und in entsprechend lockerer Haltung vor die Presse und verkündete das Not-Rückschlagventil der ganzen Veranstaltung: werden in einem Landkreis oder einer  Stadt innerhalb von 7 Tagen mehr als 50 Personen/100.000 Einwohner an Corona neu infiziert, ist es die Verantwortung der Landesregierungen ein “Shut Down” in Kraft zu setzen. (Sie und Lauterbach hatten für 35 Personen plädiert).

Die bittere Wahrheit hinter der Botschaft ist: Merkel hatte nicht die Macht, um sich gegen Egos und Profilierungswahn, für den die Länderchefs stehen, durchzusetzen. Das war ihre realistische Botschaft, nachdem das Wort ihres treuen Paladins Peter Altmeier “wir dürfen nicht wie ein Hühnerhaufen durcheinanderlaufen” von den berstenden Egos im Kampf um die Kanzlerkandidatur nicht mal ignoriert wurde. Merkels Haltung ist konsequent: Die Verantwortung für die “zweite Welle” der Pandemie, die so sicher kommen wird, wie das Amen in der Kirche, liegt nun bei den Ministerpräsidenten. Merkel hat nichts zu verlieren, weil sie keine Karriere mehr plant. Wir werden sehen, ob sie wieder eingreifen muss, wenn Jungs und Mädels in den Ländern scheitern. Im Bildungssystem und den Schulen, beim Vabanquespielen der Bundesliga und in der Gastronomie, in der Autoindustrie und im Gesundheitssystem sowie bei der Digitalisierung, und nicht zuletzt bei der Entwicklung eines Impfstoffs – hinter jeder Ecke lauert eine Falle und das Virus in Aerosolen.

Merkel wird in diese Fallen nicht tappen, sie wird beobachten, aber sie ist – zumindest vorläufig – aus der Verantwortung für die “Lockerungen” ausgestiegen. Sie bleibt für die Anwendung des Infektionsschutzgesetzes verantwortlich – das hat ihr der Bundestag durch die verfassungsrechtlich zweifelhafte Ermächtigung des Gesundheitsministers auferlegt. Aber die Entscheidungen der – verfassungsrechtlich übrigens nicht vorgesehenen – Ministerpräsident*inn*enkonferenz trägt sie offensichtlich so nicht mit – sagte ihre Körpersprache. Dass sie für einen vorsichtigeren Kurs plädiert hat, drückt sich auch in der Zusammensetzung der Konferenz aus: Der eher restriktive Söder, nicht Hallodri Laschet und vom Koalitionspartner der Arzt und Ministerpräsident Tschentscher nahmen teil. Deutlicher konnte sie nonverbal ihren Standpunkt nicht ausdrücken.

Nachbemerkung:
Ministerpräsidentenkonferenzen haben schon früher negative Geschichte geschrieben – so beschlossen sie etwa 1972 unter Vorsitz von Willy Brandt den berühmten “Radikalenerlass” zur Überprüfung aller Bewerber für den öffentlichen Dienst durch den Verfassungsschutz. Der Schuß ging nach hinten los und beschädigte jahrzehntelang die Demokratie.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net