Bis 2016 war ich selbst beruflich bei der Organisation von Flüchtlingsunterkünften beteiligt. Nicht im operativen Zentrum, aber als Fraktionsgeschäftsführer mit gutem Zugang zu operativen, tagesaktuellen Informationen. Hier hatte ich das schon mal kurz angedeutet. Ich habe miterlebt, dass diese Arbeit für die Handelnden in Politik und Verwaltung kein Vergnügen war. Und ohne das sehr grosse bürgerschaftliche Engagement wären die Probleme auch nicht zu lösen gewesen.
Seitdem hatte sich die Lage entspannt. Vor allem im öffentlichen Diskurs. Aufregung legte sich, obwohl die meisten damit zusammenhängenden Probleme nicht gelöst, sondern an andere Orte, mit weniger Medien drumrum, verlagert wurden. Die meisten Flüchtlinge schaffens halt nicht mehr bis ins Rheinland. Wenn sie nicht ertrinken, werden sie von Verbrechern in der Türkei oder Libyen in Lager gesperrt und versklavt/zwangsrekrutiert. Aus den mitteleuropäischen Augen, aus dem Sinn. Hierzulande wurden sogar zahlreiche der 2015/16 teuer angeschafften Unterbringungskapazitäten wieder geschlossen.
Zur Jahreswende 2019/20 erging die weltweite Warnung vor dem Coronavirus. 5 Monate ist das jetzt her. In Deutschland, und noch weniger im Rheinland, interessierte das zunächst zwei Monate (fast) niemand. Es musste Champions League gespielt werden, es musste Karneval gefeiert werden.
Dann der Ausnahmezustand ab Mitte März. Panik hatte die Politik erfasst. Das wurde auch hier im Blog ausführlich behandelt. Was jedoch dabei den wenigsten auffiel: die zahlreichtausenden Menschen, für die nicht nur in Pakistan oder Indien, sondern auch hier mitten im Rheinland das Abstandhalten Luxus ist.
Jetzt im Mai erschrecken sich nicht wenige: die Sklavenarbeiter*innen in Landwirtschaft und Massentierschlachtung, und, ach Du Schreck, Flüchtlinge sind ja auch noch immer welche da. Da waren wir das Scheissvirus fast schon los, und hatten nur, im Gegensatz zum Virus, die vielen Unbeachteten, Überflüssigen, Systemwidrigen vergessen. Jetzt werden wir erinnert: jede*r potenzielle Virusüberträger*in ist ein Mensch wie Du und ich. Wer sich nicht um sie kümmert, wer gar meint, andere daran verrecken lassen zu können, kann vom Virus bestraft werden. Im schlimmsten Fall hart. Ein strenger Lehrer.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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