von Luiz Ramalho
In Brasilien steigt der politische Einfluss der Generäle kontinuierlich
Bei der diesjährigen digital geführten Jahresversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 18./19. Mai erschien für Brasilien auf dem Bildschirm weder der Staatspräsident, Ex-Hauptmann Bolsonaro, noch ein ziviler Gesundheitsminister, sondern ein General. Das ist aber nichts Besonderes für die gegenwärtige brasilianische Regierung. Ihr gehören mehr Generäle an als allen Kabinetten während der Militärdiktatur (1964-85).
General Eduardo Pazuello war vier Wochen zuvor zum Staatssekretär im Gesundheitsministerium ernannt worden, nachdem der damalige Gesundheitsminister Mandetta, selbst ein rechtskonservativer Politiker, an Bolsonaro gescheitert war, da er sich an die Pandemiestrategie der WHO halten wollte.
Für Bolsonaro ist die Coronapandemie eine „Phantasie“, eine kleine Grippe (gripezinha), und er wehrt sich gegen alle Maßnahmen, die der Wirtschaft schaden könnten. Nun war kurz vor der WHO-Jahresversammlung der Nachfolger Mandettas, Dr. Teich, Arzt und Unternehmer aus dem Gesundheitssektor und glühender Anhänger Bolsonaros, ebenfalls zurückgetreten, nachdem der Staatspräsident ihn zwingen wollte, die Behandlung von Coronapatienten mit Chloroquin voranzutreiben, jenem Wundermittel, das zuvor von Trump propagiert wurde. Bei einer Pressekonferenz erfuhr zudem Dr. Teich durch die anwesenden Journalisten, dass Bolsonaro gerade Fitnesscenter für strategisch wesentlich erklärt hatte, um damit deren Öffnung zu forcieren. Brüskiert erklärte Dr. Teich: „Das kam nicht von meinem Ministerium“, und trat ein paar Tage später zurück.
General Pazuello, der von sich sagte, dass er keine Ahnung von Gesundheitspolitik habe, brachte gleich neun weitere Militärs aus dem aktiven Dienst mit, um sie in Schlüsselstellungen im Gesundheitsministerium einzusetzen. Außerdem bat Bolsonaro Marineadmiral Flavio Rocha, Minister für Sonderaufgaben beim Präsidialamt, die Politik des Ministeriums aufmerksam zu verfolgen.
Dieser aktuelle Vorgang illustriert ein mehrfach wiederholtes Muster der Regierung Bolsonaro, aufkommende Probleme und Konflikte durch den Einsatz von Militärs aus dem aktiven Dienst oder aus der Reserve zu lösen.
Allein die personelle Präsenz der Militärs in der Regierung Bolsonaro spricht für sich. Laut der spanischen Tageszeitung El País (25.05.) sind inzwischen zehn der 22 Minister*innen Militärs, mehr als in der Zeit der Militärdiktatur. Dazu bekleiden 1349 aktive Mitglieder der Streitkräfte hohe Posten in der Bundesverwaltung, berichtet die Folha de Sao Paulo, wobei die 881 von Militärs besetzten Stellen im Verteidigungsministerium noch nicht mitgezählt sind. Auch in den Bundesstaaten, die von Bolsonaro-nahen Politikern regiert werden, finden ehemalige Offiziere in hohen Positionen Verwendung. Und im Zentrum der Macht, nämlich im Präsidialamt, sind zwei der vier Minister hohe Militärs, einer ist Marineadmiral und der andere ist Ex-Offizier der Militärpolizei. Ironie dabei: der Minister für zivile Angelegenheiten, eine Art Präsidialamtsminister, ist ein General, der u. a. die Funktion hat, die Beziehungen zum Parlament zu pflegen.
Weitere Beispiele der Dominanz der Militärs in der Ära Bolsonaro sind leicht zu finden, zum Beispiel die vermehrte Schaffung von Militärschulen, die Ersetzung von zivilen Beamten im Verteidigungsministerium durch Militärs, die Verbesserung der Besoldung der höheren Offiziere, die Beibehaltung der erheblichen Privilegien der Militärkaste bei der Rentenreform 2019.
Militär düpiert ultraliberalen Witschaftsminister
Bolsonaro steht derzeit mit dem Rücken zur Wand. Seine Regierung zerlegt sich kontinuierlich selbst. Er setzt nun auf die Militärs als die stabilste Säule.
Die Regierung Bolsonaro wurde von Anfang an von unterschiedlichen Kräften getragen. Auserwählt um eine seiner Bastionen zu werden, ist der Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Ex-Richter Moro, inzwischen mit Schimpf und Schande von Bord gegangen. Er beschuldigt Bolsonaro, den Versuch unternommen zu haben, direkt in die Bundespolizei hinein zu intervenieren, um Korruptionsuntersuchungen gegen seine Söhne und Freunde zu verhindern. Dazu leitete das Oberste Gericht eine Untersuchung ein und ließ ein kompromittierendes Video der letzten Kabinettssitzung veröffentlichen, aus dem eindeutig die Einmischungsdrohungen von Bolsonaro bestätigt werden.
Der ultraliberale Wirtschaftsminister Guedes, Bolsonaros Allzweckwaffe für die Wirtschaft, wirkt seit Wochen völlig gelähmt und perplex. Sein Arsenal des Neoliberalismus, wie Steuersenkungen, „Verschlankung“ des Staates, Privatisierungen, greift einfach nicht angesichts der Notwendigkeit einer aktiven Krisenintervention. Als Reaktion darauf stellten die beiden Minister des Präsidialamts, General Walter Braga Neto und General Luiz Eduardo Ramos, zusammen mit Tarcísio de Freitas, dem Minister für Regionalentwicklung und Infrastruktur, am 27. April der erstaunten Öffentlichkeit ein gewaltiges Programm für öffentliche Investitionen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft vor, insbesondere im Infrastrukturbereich. Dieses Pró-Brasil genannte Programm knüpft an das Investitionsprogramm PAC an, das Programm zur Beschleunigung des Wachstums von Dilma Roussef, und erinnert an das Programm der nationalen Entwicklung (PND) der Regierung von General Ernesto Geisel in den 70er-Jahren zur Zeit der Diktatur. Wer bei der öffentlichen Vorstellung des Pró-Brasil nicht dabei war und nichts davon wusste: Wirtschaftsminister Guedes. Es war das erste Mal, dass die Militärs so etwas wie ein Entwicklungsprogramm für Brasilien vorstellten. Aber danach folgte ein Rückzieher. Bolsonaro entschärfte den offensichtlichen Konflikt zwischen den völlig konträren wirtschaftspolitischen Ansätzen in seiner Regierung mit der Erklärung, dass für die Wirtschaftspolitik nach wie vor der ultraliberale Guedes verantwortlich sei.
Lunáticos, die Bekloppten – eine gefährliche Bande
Es läuft gerade nicht glatt für den Präsidenten. Seine Gesetzesinitiativen werden regelmäßig im Parlament blockiert. Zahlreiche Entscheidungen scheitern an der Justiz, seine Popularitätswerte zeigen nach unten. Zudem ist Brasilien international isoliert, selbst der Hauptverbündete Trump ignoriert und übergeht Bolsonaro, zuletzt mit dem für den brasilianischen Präsidenten überraschenden generellen Verbot für Einreisen aus Brasilien in die USA „wegen Corona“.
Bleibt die absolute Loyalität seiner ideologischen Minister, oft in der Öffentlichkeit bekannt als die „Zirkusfraktion“, der „Kindergarten“ oder die Lunáticos, die Bekloppten.
Neues aus dieser gefährlichen Bande: Außenminister Araújo unterstellt China, das – so wörtlich – „kommunistische Virus“ absichtlich auf die Welt losgelassen zu haben. Die WHO möchte angeblich eine Weltregierung aufbauen.
Aus dem bereits erwähnten Video der Kabinettssitzung erfahren wir, wie diese Bande intern denkt; vom Bildungsminister Weintraub zum Beispiel, dass die Gauner (os vagabundos) in den Knast sollen, insbesondere die Richter des Obersten Gerichtshofes; von der Pastorin Damares, Familien- und Menschenrechtsministerin, dass ihr Ministerium plane, Gouverneure und Bürgermeister, die wegen der Pandemie Bewegungseinschränkungen verordnen, zu verhaften; vom Umweltminister Salles, einer besonders finsteren Gestalt, dass man nun die aktuelle Coronasituation nutzen solle, um Lockerungen der Umweltbestimmungen und -auflagen unter der Hand durchzusetzen. Denn Medien, internationale Beobachter*innen und die Zivilgesellschaft seien mit der Pandemie beschäftigt, sodass die Waldzerstörung im Amazonas, die noch nie so stark gestiegen ist wie aktuell, unbemerkt bleibe.
Bolsonaro jedoch erscheint in dieser Sitzung als der Gefährlichste: „Man sollte die Bevölkerung bewaffnen“, damit sie sich gegen die Diktatur der Gouverneure, die sich an WHO-Schutzmaßnahmen orientieren, wehren können. „Es ist sehr einfach, in Brasilien einen Putsch durchzuführen“, sprach er.
Und die Militärs? Zum Teil gefeiert als die „Vernünftigen“ im Kindergarten, die als „Dompteure der Zirkusfraktion“ auf Bolsonaro mäßigend wirkten, stecken sie in einem Dilemma. Nach der Militärdiktatur ab 1985 haben sie ihre Reputation einigermaßen wiederhergestellt.
Sie hielten sich an demokratische Regelungen, akzeptierten sogar zivile Politiker als Verteidigungsminister und machten internationale Erfahrungen durch Friedenseinsätze für die Vereinten Nationen. In der Öffentlichkeit und der Bevölkerung gewannen sie ein Image der Effizienz und der technokratischen Vernunft, als diejenigen, die liefern.
Demokraten sind sie dadurch keineswegs geworden. Sie ignorierten die Ergebnisse der Wahrheitskommission in der Regierung Dilma Roussef und lobten wie Präsident Bolsonaro den Militärputsch von 1964, zuletzt am 31. Januar dieses Jahres der Verteidigungsminister. Vergessen und verdrängt sind Korruption in der damaligen Zeit, Zensur, politischer Mord und Folter. Zudem kommen immer wieder drohende Hinweise aus den Kasernen, Warnungen vor möglichen Unruhen, über „unübersehbare Folgen“, wenn Parlament und Justiz sich vermeintlich in Belange der Exekutive einmischen oder Initiativen Bolsonaros stoppen.
“Gemässigtes”(?) Militär – auf gefährlichem Weg in die Offensive
Und jetzt haben sie sich vollständig in einer Regierung kompromittiert und faseln von möglichen zivilen Aufständen („chilenische Verhältnisse“) und einem drohenden Bürgerkrieg. Dabei sind die einzigen, die mit einem Bürgerkrieg drohen, Bolsonaro und seine Anhänger*innen, die ständig für eine Militärintervention und die Abschaffung von Parlament und Justiz vor den Kasernen demonstrieren, oft in Anwesenheit des Präsidenten als Brandstifter.
Für Bolsonaro sind die Militärs willige Garanten seiner Regierung, denn sie respektieren die Hierarchie mit ihm an der Spitze und sind keine politischen Konkurrenten oder potenzielle Protagonisten gegen ihn. Und ein Gegengewicht sind sie erst recht nicht. Zurückziehen können und wollen sie sich angesichts ihrer massiven personellen Präsenz, ihrer neu gewonnenen Privilegien und Ambitionen auch nicht. Bleibt nur der gefährliche Weg in die Offensive, d.h. immer mehr Regierungsbereiche zu übernehmen, immer klarer zu intervenieren und so die Militarisierung der Regierung mit allen Konsequenzen zu vollziehen.
Sollte Bolsonaro scheitern, zum Beispiel durch ein Impeachmentverfahren im Parlament oder einen Prozess beim Obersten Gerichtshof, kämen sie unter Zugzwang. Wie hat sich der Ex-Hauptmann Bolsonaro ausgedrückt? Es sei sehr leicht, in Brasilien einen Putsch durchzuführen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 436 Juni 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Das Lateinamerika-Forum Berlin macht in Kooperation mit der ila am 25. Juni ein Online-Seminar, oder neudeutsch webinar, zum gleichen Thema, bei dem der Autor dieses Beitrages sowie Roberto Frankenthal, Simon Ernst und Gaby Küppers referieren werden.
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