Von Günter Bannas
Ob der Terminus „Deutscher Herbst“, der bislang die Zeit der Terroranschläge 1977 kennzeichnet, bald einen neuen Inhalt erhält? Volatil wie nie sind die Verhältnisse zu Beginn dieser politischen Herbstsaison, die mit der bevorstehenden Sitzungswoche des Bundestages eröffnet wird. Symbolischer Ausdruck dafür ist weniger der Umstand, dass vor gut einer Woche unter angeblicher Anführung einer mutmaßlichen Heilpraktikerin aus der Eifel einige hundert Menschen, teils schwarz-weiß-rote Fahnen der Demokratiefeinde schwenkend, die Treppe zum Westeingang des Parlamentsgebäudes, seit jeher „Reichstag“ genannt, hinaufstürmten und einer von ihnen hyperventilierend „Wahnsinn!“ rief, was er per Smartphone als Video aufzeichnete, das umgehend bis ins Fernsehen hinein publik wurde. Symbolischer Ausdruck der Verhältnisse ist vielmehr die Tatsache, dass ein Jahr (!) vor der Bundestagswahl ein – die künftige Zahl der Abgeordneten regelndes – Wahlgesetz noch nicht verabschiedet ist, sowie die Aussicht, dass der CDU/CSU/SPD-Gesetzentwurf, sollte er tatsächlich beschlossen werden, auf Antrag von Grünen, Linkspartei und FDP beim Bundesverfassungsgericht landet. Mit welcher Folge auch immer. Es herrscht Wahlkampf. Auf allen Ebenen.
Wer gegen wen? Immerhin die SPD hat Klarheit geschaffen, indem sie Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten ernannt hat, was ihr aber, laut Umfragen stabil auf Platz drei liegend, bisher nichts genutzt hat. Die Grünen halten sich diese Sache offen – wahrscheinlich bis ins nächste Jahr hinein, obwohl (oder gerade weil?) sie mehr Anlass als die SPD haben, einen Kanzlerkandidaten zu präsentieren. Die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck machen es unter sich aus, und zwar ohne Mitgliederentscheid, was für die Partei eine – Reibungsverluste vermeidende – Sensation ist. Die CDU scheint blendend dazustehen. Geblendet von den Demoskopen? Immer noch ist Angela Merkel amtierende Chefin, obwohl ihr längst nicht mehr alles gelingt. Auch die Linkspartei wählt eine neue Spitze, was Auskunft über ihre grün-rot-rote Koalitionsfähigkeit geben wird. Und auch der FDP steht ein Parteitag bevor, ebenfalls mit der Frage, ob und mit wem sie einmal regieren will. Werden zum Weihnachtsfest – unter dem Regime von Masken im Parlament und auf Parteikongressen – mehr Klarheiten geschaffen worden sein? Zu Beginn des deutschen Herbsts 2020 ist nicht mal das sicher.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. © DER HAUPTSTADTBRIEF
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