von Franziska Menge
Keine Arbeit bedeutet Hunger – Auswirkungen von Corona auf Näher*innen in den Maquilas Mittelamerikas

Die Corona-Krise trifft viele Branchen hart. Doch der produzierende Sektor der Bekleidungsindustrie ist praktisch über Nacht durch die entstandenen Rohstoff- und Auftragskrisen zusammengebrochen. Millionen von Arbeiter*innen in Nähfabriken weltweit haben ihren Arbeitsplatz verloren und sind in existenzielle Nöte geraten. Was das konkret für die Näher*innen (ganz überwiegend Frauen) in Mittelamerika heißt, beschreibt Franziska Menge, Referentin für Bekleidung bei der Christlichen Initiative Romero.

Die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Zulieferern und Unternehmen werden im Zuge der Corona-Krise besonders sichtbar. Die Praxis der Modeunternehmen zu Beginn der Pandemie: erwartete Umsatzeinbußen abfedern, indem Aufträge in Milliardenhöhe in den Herstellungsländern storniert werden. Viele Unternehmen berufen sich auf „höhere Gewalt“ und nehmen bereits fertiggestellte Ware nicht ab oder verhängen Sanktionen bei überschrittenen Lieferzeiten. Als Folge bleiben Zulieferer auf Bergen an Kleidungsstücken sitzen. Es fehlen die benötigten Einnahmen, um die Löhne an die Näher*innen auszuzahlen. In vielen asiatischen und einigen mittelamerikanischen Ländern werden Fabriken von einem Tag auf den anderen geschlossen und die Näher*innen sich selbst überlassen.
Maquila-System – 400.000 Arbeitsplätze
Die Bekleidungs- und Textilindustrie Mittelamerikas spielt mit ca. 400.000 Arbeitsplätzen in der Region eine wichtige Rolle. Das sogenannte „Maquila-System“ hat sich – ausgehend von Mexiko – vor allem in Nicaragua, Guatemala, El Salvador und Honduras etabliert. In so genannten Sonderwirtschaftszonen oder Freien Produktionszonen arbeiten jeweils einige zehntausend Beschäftigte in Montagebetrieben und Nähfabriken für die Märkte in Nordamerika, Westeuropa und teilweise sogar Ostasien und werden dabei systematisch ausgebeutet. Die Arbeitsbedingungen sind durch hohe Unsicherheit und körperliche sowie gesundheitliche Belastung geprägt. Da – wie in vielen asiatischen und osteuropäischen Ländern – auch in Mittelamerika die gesetzlichen Mindestlöhne bei weitem nicht die Existenzsicherung garantieren, müssen Näher*innen in den Fabriken extrem lange und bis zur Erschöpfung arbeiten. Viele von ihnen leben in Wellblechhütten in den Brennpunktvierteln rund um die Hauptstädte. Mit dem Gehalt aus der Fabrik können sie schon in normalen Zeiten nicht die Grundbedürfnisse ihrer Familie decken und geraten in eine Schuldenfalle, aus der es kein Entrinnen gibt. Ersparnisse gibt es oftmals nicht. Die Corona-Pandemie hat viele dieser bestehenden Problematiken verschärft.
In Mittelamerika unternehmen Regierungen zunächst wenig, um Näher*innen zu helfen, die von der Corona-Krise betroffen sind, und reagieren unterschiedlich auf die Pandemie. Während die Bewohner*innen Guatemalas, Honduras‘ und El Salvadors seit März für einige Monate einen strengen Lockdown erfahren und überwiegend nicht arbeiten können, herrschen in Nicaragua Ignoranz und Sorglosigkeit gegenüber den Gefahren des Virus. Unabhängig vom unterschiedlichen Umgang der Regierungen mit der Pandemie sind die Folgen für die Näher*innen häufig ausbleibende oder unvollständige Lohnzahlungen, Mobilitätseinschränkungen, Nahrungsmittelunsicherheit, Gewalt und psychische Belastungen sowie die ständige Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren.
Unterschiedliche Schutzmassnahmen
Viele Maquilas in El Salvador und teilweise auch in Honduras, Guatemala und Nicaragua bleiben viele Monate geschlossen. Neben der Ansteckungsgefahr stecken hinter den Fabrikschließungen jedoch auch andere Gründe wie fehlende Rohstoffe und ausbleibende Aufträge. Nach Aussagen von Marta Zaldaña von der Gewerkschafts-Föderation FEASIES wird geschätzt, dass der salvadorianische Textilsektor seit Beginn der Pandemie bis zu 25.000 Arbeitsplätze verloren hat. Momentan verkündet El Salvador Lockerungen und öffnet erste Fabriken wieder in unterschiedlichen Phasen mit 40 oder 60 Prozent des Personals, um Mindestabstände einzuhalten. Schwangere, chronisch kranke oder ältere Personen über 60 dürfen jedoch vorerst nicht an den Arbeitsplatz zurückkehren. Nach Angaben der Gewerkschaftsföderation FEASIES kostet eine Fahrt zur Fabrik aus entlegenen Wohngebieten aktuell zwischen drei und fünf US-Dollar – ein Betrag, den sich viele mit reduziertem Gehalt infolge der wirtschaftlichen Krise nicht leisten können.
In vielen Fabriken Nicaraguas darf seit Beginn der Pandemie weitergearbeitet werden, sofern Stoffe zur Weiterverarbeitung verfügbar sind. Dabei fehlt es jedoch an Präventionsmaßnahmen und auch häufigeres Händewaschen war zunächst untersagt, um die Produktion nicht zu verlangsamen. Mittlerweile gestalten sich die Schutzmaßnahmen in nicaraguanischen Fabriken unterschiedlich. Um sich gegen die instabile Auftragslage zu wappnen, erlaubt ein Abkommen zwischen regierungstreuen Gewerkschaften, Unternehmen und der nicaraguanischen Regierung vom 24. März 2020 den Arbeitgeber*innen, Arbeitsverträge einfach zu unterbrechen oder ihre Angestellten zu entlassen. „Diese Leute treffen Vereinbarungen zu Ungunsten der am wenigsten Geschützten“, berichtet Sandra Ramos vom MEC, einer der größten Arbeits- und Frauenrechtsorganisationen in Nicaragua.
Viele Maquilas Guatemalas bleiben mit einer Sondergenehmigung des Wirtschaftsministeriums geöffnet. Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken werden jedoch in einigen Fällen nicht eingehalten. Im Mai wird in einer Fabrik, die für US-Marken produziert, ein Corona-Ausbruch mit 200 positiv getesteten Näher*innen festgestellt.
In Honduras wird einer Untersuchung in der Region Cortés zufolge festgestellt, dass das Arbeiten in den Maquilas eine der Hauptursachen für die Ausbreitung des Coronavirus ist. Ein Problem sind auch fabrikinterne Transporte, bei denen Näher*innen dicht gedrängt in Bussen sitzen. Neben der Gefahr, sich bei der Arbeit zu infizieren, stehen Näher*innen in Mittelamerika vor zusätzlichen Herausforderungen.
Überwiegend Frauen
Die Beschäftigten in den Maquilas der Textil- und Bekleidungsproduktion sind überwiegend Frauen, oftmals alleinerziehende Mütter, die den Unterhalt für ihre Familien verdienen müssen. Da das Einkommen nicht ausreicht, gehen sie in der Regel noch anderen, informellen Tätigkeiten nach. Durch die teils drastischen Ausgangssperren und den Stillstand der öffentlichen Verkehrsmittel, wie z.B. in Guatemala-Stadt, können sie sich nicht fortbewegen und zusätzliche Einkommensmöglichkeiten entfallen. Die aufgrund von Versorgungsengpässen teurer werdenden Lebensmittel in den Ländern können sich viele nicht leisten. Finanzielle Nöte und Hunger als Folge verschärfen sich.
Doch nicht nur fehlende Lohnzahlungen tragen zur aussichtslosen Lage der Näher*innen und Arbeiter*innen informeller Sektoren bei. Die gesellschaftlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens treffen die Schwächsten. In Honduras kam es beispielsweise zu Beginn des Lockdowns im März zu Unruhen, da Banken geschlossen waren und es gleichzeitig zu einer Wasser- und Versorgungskrise kam. Für Schlagzeilen sorgten Verhaftungen von Frauen und Kindern, die trotz Ausgangssperre Tortillas verkauften oder in Suppenküchen arbeiteten. Laut eines Berichts des Komitees der Angehörigen der Verhaftet-Verschwundenen in Honduras sind seit dem national ausgerufenen Lockdown am 16. März über 22.000 Menschenrechtsverletzungen geschehen. Gleichzeitig mehren sich Gewalt und rassistische Diskriminierung gegen Minderheiten und Migrant*innen. Insbesondere Frauen sind Gewalt ausgesetzt. Der Weg zur Arbeit gestaltet sich in einigen Ländern während der Pandemie anders als gewohnt. Wenn der Transport zum Arbeitsplatz nicht gesichert ist, sind Frauen zu Fuß oder auf anderen Wegen einem erhöhten Risiko für Überfälle ausgesetzt. Im Falle einer Corona-Infektion und angeordneter Quarantäne oder bei komplettem Verlust des Arbeitsplatzes verbringen sie mehr Zeit zu Hause und erfahren in vielen Fällen Übergriffe häuslicher Gewalt.

Die Auswirkungen des globalen Produktionsstillstands in der Bekleidungsindustrie und die Folgen für die Näher*innen in Mittelamerika verdeutlichen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Lieferanten und Arbeiter*innen im Globalen Süden von Modeunternehmen im Globalen Norden. Deswegen müssen Unternehmen auch in der Krise und über sie hinaus Verantwortung übernehmen und ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nachkommen. Neben der Bezahlung von bereits erteilten Aufträgen und der Verlängerung von Lieferzeiten müssen sie finanzielle Hilfen bereitstellen.
María Aguirre, Näherin aus El Salvador, arbeitet seit 17 Jahren für die Fabrik Textiles Opico. Sie hat eine klare Botschaft: „Wir fordern die Marken auf, dass sie Verantwortung übernehmen und vollständige Löhne zahlen, die den Produktionsbonus beinhalten, denn wir haben uns viele Jahre angestrengt, um die Gewinne der Marken zu erwirtschaften.“
Suspendierte Näher*innen in Honduras werden aktuell mit einer Zahlung von 240 US-Dollar unterstützt – 100 US-Dollar werden von den Unternehmen und 140 US-Dollar von der Regierung übernommen. Ein wichtiger Schritt, um Näher*innen nicht im Stich zu lassen. Einer Untersuchung der honduranischen Organisation EMIH zufolge (Equipo de Monitoreo Independiente de Honduras): Untersuchung zur Situation der Näher*innen in der Pandemie) werden beide Anteile jedoch unregelmäßig ausgezahlt und müssen von den Betroffenen eingefordert werden. Die Auszahlung von Löhnen und Abfindungen sollte oberste Priorität haben, um die Versorgung der Arbeiter*innen in der Bekleidungsindustrie zu gewährleisten. Doch auch die zukünftigen Verträge zwischen auftraggebenden Unternehmen und ihren Zulieferern müssen Absicherungen enthalten – nicht nur in Krisenfällen.
Als Teil der Kampagne für Saubere Kleidung fordert die Christliche Initiative Romero, dass sich die Bekleidungsindustrie als Ganzes dazu verpflichtet, nachhaltigere und widerstandsfähigere Lieferketten aufzubauen. Unternehmen müssen sicherstellen, dass die Zulieferer den Arbeiter*innen existenzsichernde Löhne und Sozialleistungen zahlen. Außerdem müssen Unternehmen das derzeitige Geschäftsmodell, bei dem die Produktion durch Preis- und Zeitdruck getrieben ist, überdenken und zugunsten von Arbeiter*innen anpassen. Dabei sollte eine Auftragsstabilität erreicht werden, die eine ordentliche Planung, rechtzeitige Zahlungen und die volle Achtung der Menschenrechte und des Umweltschutzes ermöglicht.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 438 Sept. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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