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“Hast du nicht auch das Gefühl, dass irgendetwas mit der Zeit nicht stimmt?“ Meine Nachbarin schaut mich beim samstäglichen Abstandskaffee auf unserem Wochenmarkt irritiert von der Seite an. „Wie meinst du das?“, fragt sie. „Na ja“, versuche ich zu erklären, „es kommt mir so vor, als ob sie zu einem einzigen Block geronnen ist. Von März bis jetzt, das ist alles wie an einem Stück, ohne Unterbrechung, Strukturierung.“ – „Stimmt total, alles so gestaut“, sagt sie und schaut versonnen auf den Milchschaumstrudel in ihrem Latte macchiato.

Die Spätphase der Aufklärung nennen ja alle Sattelzeit: die Epochenwende, in der gleichsam ein Bergsattel überschritten wurde und sich eine ganz neue Welt eröffnete, mit einem neuen Zeitgefühl und neuen Begriffen: Fortschritt, Moderne, Kommunismus. Mich beschlich nach ein paar Monaten unserer globalen Zäsur eher das seltsame Gefühl einer ereignistauben Blockzeit.

„Oh Gott“, entfuhr es mir vor ein paar Wochen bei einer der raren Veranstaltungen im SO36 beim Blick auf die verstaubten Flyer der Partys vom Februar in den verstaubten Wandordnern. War das schon so lange her? Was war in dem halben Jahr passiert? Ich konnte mich kaum daran erinnern. Die Bilder des windigen Nachmittags mit Freunden beim Drachensteigen auf dem Tempelhofer Feld, des Morgenkaffees unter freiem Himmel mit einem anderem Freund am Kanal, des gemeinsamen Bades bei den Stadtflüchtlingen in einem grünen See in Brandenburg stiegen nur bei heftigem Nachdenken wie ein an den Rändern aufhellender Super-8-Film aus dem verlorenen Gedächtnis.
Überfluss an Zeit bei einem Mangel an Raum
Lag es an dem monotonen Alltag im Coronozän? Daran, dass man kaum jemanden sah, endlose Spaziergänge unternahm, aber nicht von der Stelle kam? Das verdammte Virus hatte Tod und Infektion mit sich gebracht. Fast schlimmer aber war dieses paradoxe Gefühl eines Überflusses an Zeit bei einem Mangel an Raum. Trotzdem blieb dieser See an Zeit, in dem ich plötzlich schwamm, leer: Zeitwohlstand ohne Zeitsouveränität.

Ich konnte die wiedergewonnene Zeit nicht wirklich für Besseres verschwenden: endlich mal wieder Lyrik lesen, über den Sinn des Lebens nachdenken oder Türkisch lernen. Stattdessen starrte ich auf die Infektionszahlen. Verfolgte die Meldungen über obskure Impfstoffe. Empörte mich über Bolsonaros Wahnsinn am anderen Ende der unerreichbar gewordenen Welt. Abgeschottet wie eine Monade wartete ich auf das Ende dieses nutzlosen Luxus. „Verstehst du?“, erkläre ich meiner Freundin, „die Zeit ist nicht aus den Fugen. Sie jagt nur nicht mehr wie ein Pfeil in die Zukunft. Sie steht wie so eine vernagelte Black Box in der Landschaft.“

Marinettis Hymne an die Schönheit der Geschwindigkeit war verblasst, ein angenehmes Gefühl der Entschleunigung hatte sich breitgemacht. Plötzlich war die Zeit eine Zeit ohne Ziel. Ich wusste nicht, wann ich meine Freunde am Bosporus wiedersehen, ob ich in Urlaub fahren oder überhaupt aus diesem Cordon sanitaire herauskommen würde.

Erst hatte mich der abrupte Stillstand der unerbittlich sich drehenden Zivilisationsmaschine gefreut. Dann litt ich an dem erzwungenen Präsentismus. Was sich so viele so sehnlich wünschen: Im Hier und Jetzt leben war mir plötzlich ein Horror. Eine Zukunft, die anders aussähe als dieses gestreckte Jetzt, war kaum noch vorstellbar. Alles waberte in einer breiten Gegenwart, in die alles hinein-, aber nichts mehr abfließt.

„Klar“, beschied ich einen Freund am Handy, der wissen wollte, ob ich mit zur Fahrradtour nach Wandlitz käme. War mir aber nicht sicher, ob uns das weit bringen würde. Noch so ein Event, das in diese zähe Masse gleiten, dann aber wie nie geschehen verdämmern würde.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).