von Verónica Gago (Zusammenfassung: Laura Held)
Feministische Strategien während der Corona-Pandemie

Hunderttausende gehen seit 2015 in vielen lateinamerikanischen Ländern unter dem Motto „NiUnaMenos“ auf die Straße, um gegen Gewalt gegen Frauen zu mobilisieren. Im Jahr 2016 wurde in Argentinien innerhalb einer Woche der erste landesweite feministische Streik organisiert, der am 19. Oktober einen großen Erfolg feiern konnte. Die internationalen Streiks am 8. März jedes Jahr mobilisieren vor allem in Lateinamerika sehr viele Menschen, genauso wie die Marea Verde (grüne Welle) für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Argentinien. Und an dem letzten „Plurinationalen Treffen von Frauen und Queers“ (ehemals: „Nationales Frauentreffen in Argentinien“) im Oktober 2019 beteiligten sich rund 250000 Menschen. Feministische Organisationsansätze gehören aktuell eindeutig zu den kraftvollsten und wichtigsten Bewegungen, das gilt ganz besonders für Lateinamerika. Scharfe Analysen und auch utopische Gedankenspiele bereichern dank der lateinamerikanischen Feminismen die Debatten. Die argentinische Feministin und Aktivistin Verónica Gago, deren „Acht Thesen zur feministischen Revolution“ international breit diskutiert wurden, war per Zoom auf der internationalen Engels-Konferenz „Linke Utopien und emanzipatorische Praxis“ zugeschaltet mit einen Vortrag über feministische Strategien angesichts der Corona-Pandemie, die sie unter fünf Gesichtspunkten vorstellte. Die Konferenz fand am 10. und 11. September 2020 an der Bergischen Universität in Wuppertal statt. Laura Held hat diese Gesichtspunkte für die ila bearbeitet und zusammengefasst.

1. Die Eroberung der Straße wurde durch die Covid-19-Pandemie abrupt gestoppt. In den letzten Jahren haben die Feminismen verschiedene massive Mobilisierungen im öffentlichen Raum organisiert und damit die traditionellen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien, Universitäten, Vereine, Gemeinden herausgefordert. Diese neue Protest-Dynamik war überall präsent, hat aus der Bewegung entstandene Prinzipien in politische Räume und Initiativen übersetzt. Wie kann angesichts der verschiedenen Bedrohungen im Alltag, in den privaten Haushalten und besetzten Territorien (1) weiter Widerstand geleistet werden, wenn die Form der massiven Mobilisierungen wegfällt? Wir müssen dringend neue Protestformen erfinden.
2. Die Feminismen haben mit ihren Analysen den Zusammenhang zwischen staatlicher und privater Verschuldung, der zunehmenden Reichtumskonzentration und dem Extraktivismus aufgezeigt und angefangen, Gegenstrategien zu entwickeln. Der wegen der Pandemie ausgerufene Ausnahmezustand führt zu einer Beschleunigung von Verschuldung, von Enteignungen, von Vertreibungen und Brandrodungen. Der Ausnahmezustand wird benutzt, um die Ausbeutungsprozesse in den Territorien zu beschleunigen; das betrifft das Agrobusiness, aber auch das Finanz- und Immobiliengeschäft, die alle drei eng miteinander verknüpft sind. Die Analyse der Feminismen über die besetzten „Körper und Territorien“ hat sehr wertvolle Beiträge geleistet, internationale Streikbewegungen ins Leben gerufen und vielfältige Aktionen unterstützt, die sich gegen die gewaltsame Aneignung und Besetzung von Körpern und Territorien wehren. Diese Analysen und Kämpfe sind heute wichtiger denn je, um die aktuelle Dynamik zu verstehen. Wie kann angesichts der „kollektiven Starre“ ein Wiederaufbau der Wirtschaft gelingen – ohne die strukturelle Verschuldung, die der Grund für die kollektive Verarmung und die einschneidende Sparpolitik der Regierungen ist?
3. Die Ausbeutung der Menschen, vor allem von Frauen in der un- oder schlecht bezahlten Care-Ökonomie, in den Haushalten, sprich beim Kochen, Putzen, Kinder erziehen, Pflegen, wurde enorm intensiviert durch die Pandemie, ebenso wie die private Verschuldung und die häusliche Gewalt. Die Feminismen haben es geschafft, die ungeheure Bedeutung dieser nicht anerkannten und nicht bezahlten Care-Arbeit „an der Frontlinie“ ins allgemeine Bewusstsein zu bringen sowie die sich daraus ergebenden Kämpfe – gegen die Intensivierung der Gewalt, gegen Feminizide („Ni una menos“), für die Rechte der (prekarisierten) Arbeiter*innen und das Recht auf Wohnen, gegen Zwangsräumungen und das herrschende Familienbild (das längst von der Wirklichkeit überholt wurde) – trotz der Ausgangssperre aufrecht zu erhalten: etwa durch Ruidazos (Lärmschlagen) gegen häusliche Gewalt, Aktionen gegen Zwangsräumungen und für ein Mieterschutzgesetz, die Kampagne „Nos sostienen las redes feministas“ („Die feministischen Netzwerke halten uns am Leben“) sowie eine immense Zahl an nationalen und internationalen Seminaren, Begegnungen, Kooperationen. Es geht mehr denn je darum, die Unterdrückung und Ausbeutung, die Gefangenschaft und Unsichtbarkeit im privaten Haushalt, in der eigenen Wohnung zu politisieren.
4. Während der Pandemie haben nur bestimmte Personenkreise das Recht, sich im öffentlichen Raum zu bewegen: medizinisches Personal, Militärs und staatliche Angestellte im Einsatz. Die Feminismen haben dafür gekämpft, dass auch andere Menschen das Recht auf Mobilität haben, etwa zur Begleitung und Sozialarbeit, diejenigen, die auf und von der Straße leben, Versorgungsnetzwerke wie etwa ländliche Kooperativen, die Lebensmittel direkt in die Städte liefern. Die Dimension der selbst organisierten Versorgung mit gesunden Lebensmitteln durch Vernetzung und Kooperation, gegen die Agrarindustrie und die defizitäre staatliche Versorgung ist zu einem Schwerpunkt der aktuellen Auseinandersetzungen geworden.
5. Die Frage „Wer bezahlt die Krise?“ ist von brennender Bedeutung. Die Pandemie hat die herrschende Finanzkrise, die steigende Verschuldung, die Enteignungen und Vertreibungen verstärkt und beschleunigt. Feministische Analysen und Strategien gegen die zunehmende Verarmung, ausgelöst durch Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Medikamenten, Wohnraum sowie die galoppierende Inflation bestehen auf einer anderen Lösungsstrategie: nicht noch mehr kollektive und individuelle Verschuldung, sondern endlich Anerkennung der Leistungen häuslicher Arbeit, von Pflege- und Fürsorge-Netzwerken sowie selbstorganisierter gesundheitlicher Versorgung, durch die Einbeziehung dieser Arbeit in finanzielle Berechnungen (etwa das Bruttoinlandsprodukt) und gerechte Entlohnung. Dadurch werden andere Fragen gestellt und andere Wertigkeiten eingeführt. Die Verschuldungsspirale an den Börsen der Welt, die Finanz- und Immobilienspekulation und den Extraktivismus gilt es zu stoppen. Der Kampf gegen den Extraktivismus, für die Befreiung der Körper und Territorien und die Ablehnung der Verschuldung werden bestimmen, wie die Zukunft nach der Pandemie aussieht.
Fussnote:
(1) Territorium ist in der lateinamerikanischen Debatte ein ganzheitlicher Begriff, der einen Lebensraum bezeichnet, der geschützt und nicht verwertet wird, etwa eine heilige Lagune, ein indigener Lebensraum, ein städtischer kollektiver Gemüsegarten, ein lebendiges Stadtviertel. Der Extraktivismus besetzt diese Territorien in Stadt und Land, indem er sie lediglich unter Rentabilitätsgesichtspunkten und rein territorial betrachtet.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 439 Okt. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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