Sie konnten in Lateinamerika nicht aufgeknackt werden – Interview mit der Soziologin Karin Fischer über die Lehren aus den Pink-Tide-Regierungen
Unter dem Titel „Von Engels gelernt? Linke Utopien und emanzipatorische Praxis in Lateinamerika“ begaben sich im September 2020 etwa 50 Neugierige an die Wuppertaler Uni, um an zwei Tagen den Vortragenden, überwiegend aus dem linken, akademischen Spektrum, zu lauschen und Fragen zu stellen. Auch die ila war vor Ort und hat bei Karin Fischer, Expertin für Globale Soziologie und Entwicklungsforschung an der Uni Linz, nachgefragt. In ihrem Vortrag auf der Konferenz befasste sich Fischer mit „Klassenherrschaft und Weltmarktintegration“ in Lateinamerika. Wir wollten von ihr insbesondere erfahren, welche Lehren aus dem Scheitern der Mitte-Links-Regierungen (Pink Tide) gezogen werden können.

Warum ist es unter den Pink Tide Regierungen zu keiner sozial inklusiven Entwicklung und auch zu keiner regionalen Integration gekommen? Welche Rolle spielten dabei die traditionellen Eliten und oligarchischen Akteure?

In diesen Gesellschaften gibt es harte Machtformationen in Wirtschaft und Politik, die schwer aufzuknacken sind. Das erleben wir auch in Europa. In Österreich ist eine Vermögenssteuer etwa nach wie vor ein Tabu. In Lateinamerika ist es noch schwieriger, die besitzende Klasse zu steuern. In allen lateinamerikanischen Ländern können sich die mächtigen gesellschaftlichen Gruppen erfolgreich entziehen, wenn es um die Finanzierung des Gemeinsamen geht. Dies kann man als „unerledigte Vergangenheit“ bezeichnen, weil sich in der Hinsicht seit der Kolonialzeit nichts geändert hat. Ungleichheit in Lateinamerika manifestiert sich vor allem im ungleichen Landbesitz. Leider hat es auch keine Revolution geschafft, für eine maßgebliche Umverteilung von Land, Vermögen und Besitz zu sorgen.
Ich forsche auch zu rechten und neoliberalen Formationen in der Zivilgesellschaft, zu Gruppen, die an den Universitäten oder in Think Tanks tätig sind und sich zum Teil paramilitärisch formieren. Die Gruppen, die in Brasilien gegen Dilma Rousseff aktiv geworden sind, waren gut ausgebildet und geübt in gezielten Medienkampagnen. Diese neoliberale, autoritäre Rechte hat sich ihre Bastionen in der Zivilgesellschaft geschaffen.
Es braucht viel mehr als gewonnene Wahlen, um einen Wandel in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen herbeizuführen. In Brasilien zum Beispiel mussten Lula und Dilma mit einer beachtlichen Mitte-Rechts-Mehrheit im Parlament klarkommen. In Venezuela wurde versucht, eine Parallelstruktur aufzubauen. In Bolivien und in Ecuador war die Situation anders, weil mit dem Verfassungsprozess Staat und Staatlichkeit tatsächlich verändert wurden. Hier stellt sich erst recht die Frage: Warum ist dort, wo sie mit einer satten Mehrheit ausgestattet tatsächlich staatliche Strukturen neu aufsetzen konnten, kein tiefgreifender Wandel gelungen? Wie groß war überhaupt der Gestaltungsspielraum? Das Bergbaugesetz von Evo Morales hat den transnationalen Firmen mehr Rechte als vorher gegeben. War dieser Kniefall vor dem transnationalen Kapital nötig, um das Geld reinzuholen und anders zu verteilen?

Die linken Regierungen waren mit Handlungsmacht ausgestattet und haben sie vielleicht nicht genügend ausgereizt.

Das ist eine Interpretation, die ich aus der Distanz nur sehr verschämt vortragen mag. Schließlich ist die Rechte gut organisiert. Und bewaffnet. Ich war Anfang des Jahres in Chile. Dort haben mir ältere Semester von ihren tiefsitzenden Ängsten erzählt, dass das Militär auf die Straße geht. Politik zu machen mit der Erfahrung, dass das Militär schneller da ist, als man glaubt, ist nicht einfach. Hinzu kommt: Eine Wirtschaftsstruktur umzustellen, ein anderes Wirtschaftsmodell zu entwickeln und umzusetzen, ist eine unglaubliche Herausforderung.
Verflochtene Machtgruppen
Du hast in deinem Vortrag sehr gut beschrieben, wie eng miteinander verflochten die Interessen der Agrarunternehmen, der Kapital- und anderen Machtgruppen sind. Das sind die Beharrungskräfte, die einer Transformation im Wege stehen.

In der Ära der Importsubstitution, ab der Weltwirtschaftskrise etwa, mit einem intervenierenden Entwicklungsstaat, nahmen die lokalen Unternehmer zwar bereitwillig die Unterstützung des Entwicklungsstaats an, in Form von Krediten, Subventionen, Steuererleichterungen und Importzöllen, sie wollten sich aber in ihre privatwirtschaftlichen Geschäfte nicht reinreden lassen. Alles, was mit Planung oder Interventionismus von Seiten des Staats zu tun hatte, wiesen sie strikt zurück. Der Entwicklungsstaat versuchte mehrheitlich mit sanften Mitteln, die Unternehmer in die Richtung zu lenken, um die strategisch wichtigen Schritte zu unternehmen: Infrastruktur aufzubauen, Grundstoffindustrien zu entwickeln. Allerdings, und das ist historisch angelegt, bildeten sich dann große Oligopole, bis hin zu Monopolen am Binnenmarkt. Diese mächtigen Wirtschaftsgruppen, Konglomerate, meistens im Verbund mit einer Bank beziehungsweise einer Finanzgruppe, über mehrere Sektoren diversifiziert aufgestellt, waren mächtige Wirtschaftsakteure, die kein Interesse an einer irgendwie geARTEten nationalen Entwicklung hatten, sondern schlicht ihre Geschäfte und Profite machen wollten. Und wenn sich Profite eben am Binnenmarkt machen lassen, dann machen sie sie dort. Wir haben beispielsweise in Argentinien eine verflochtene Industrie- und Agrobusinesselite oder in Chile diese fünf riesigen Familienunternehmen. Das sind sehr mächtige Wirtschaftsakteure, die den Export dominieren, aber auch nach innen sehr viel Macht haben. Was haben die mit nationaler Entwicklung am Hut? Sie sind hochgradig transnationalisiert, auch in Brasilien. Sie bringen ihre Regierungen dazu, für sie in Brüssel zu lobbyieren, für ihre Exportwirtschaft. Insofern ist dieses nationale Projekt vielleicht eine Schimäre.
Die regionalen Integrationsprojekte im Lateinamerika der 60er, 70er Jahre hatten viel zu wenig politischen Support. Wirtschaftsintegration, regionale Integration, das ist kein wirtschaftliches Projekt, sondern ein politisches, das muss man wollen. Diese Widersprüche sind auch jüngst bei den progressiven Integrationsprojekten aufgebrochen, als wichtige Kapitalgruppen und Wirtschaftsakteure nicht mitzogen. Sie wollen exportieren und nicht unbedingt ihre Güterketten regionalisieren. Die Weltmarktbezogenheit ist scheinbar alternativlos.
Verstaatlichung utopisch – welche Rolle spielen Bewegungen?
Aktuell ist das Panorama noch aussichtsloser als in den 70ern, als etwa die Unidad Popular in Chile bestimmte Industrien verstaatlichte. So etwas wäre heute quasi utopisch, die Verflechtung mit dem Weltmarkt ist viel engmaschiger geworden. Aber wir reden bislang über Regierung, Staat und Wirtschaft. Welche Rolle spielen die Bewegungen? Gerade in Chile hast du Anfang des Jahres selber gesehen, was für ein Aufbruch da stattgefunden hat.

Zu sehen, welcher Ruck dort durch die Gesellschaft geht, hat mich sehr berührt. Möglicherweise, hoffentlich, ist die Situation dort eine andere als in Brasilien, wo die Mittelschicht die Gefolgschaft gegenüber der PT aufgekündigt hatte. Die Mittelschicht ist in Lateinamerika insgesamt ein wackeliger politischer Bündnispartner für linke Politik. Sie suchen ihr Heil schnell wieder bei den Oberschichten, wenn ihnen der Druck von unten zu groß wird. Das geschah in Brasilien. Hinzu kommt: Wenn obere Mittelschichtsangehörige für ihre Hausangestellten Lohn und Versicherungen zahlen müssen, trübt sich die Begeisterung für linke Politik schnell wieder ein. Ich hoffe, dass es in Chile ein bisschen anders ist, weil dort dieses neoliberale Modell eindeutig an seine Grenzen gestoßen ist. Die Haushalte sind verschuldet, Bildung ist teuer. Die Demonstrationen gehen zurück bis ins Jahr 2006, zu den sogenannten Pinguinen, den Revolten der Studierenden, Schüler*innen und deren Eltern, die mit auf der Straße waren. Bis weit in die Mittelschicht hinein ist die Unzufriedenheit mit diesem Modell so groß und die Opposition so kräftig, dass dort tatsächlich etwas Neues entstehen kann. Die traditionelle Linke ist relativ schwach vertreten, vor allem sind da viele Unorganisierte, die sogenannten Flaites, junge, prekarisierte Leute aus den Stadtrandgebieten, die ein Klassenbewusstsein entwickelt haben, ohne dass ihnen das irgendwelche linken Capos erklären mussten.
Ähnlich wie das, was wir über Venezuela wissen, haben sich in Chile die Cabildos gebildet. Diese Stadtteilgruppen, die sich zusammenfinden und diskutieren, haben mich sehr beeindruckt, mitzuerleben, wie und was diskutiert wird, etwa zu Umweltfragen oder dazu, wie man sich vor Polizeiübergriffen schützt, bis hin zu Verfassungsfragen. Die chilenische Verfassung war das meistverkaufte Buch im vergangenen Jahr. Dass dieser Prozess durch Covid-19 unterbrochen wurde, ist dramatisch. Wie stark wird diese Bewegung wieder Fahrt aufnehmen? Sie war so machtvoll, auch deshalb, weil die Frauen so stark mit dabei waren. Die Hoffnung besteht darin, dass die Mittelschichten mitziehen und für eine Rentenversicherung auf die Straße gehen, für bezahlbare Bildung, für eine öffentliche Infrastruktur.

Ab welchem Punkt steigt die Mittelschicht aus oder ist sie per se vergesslich und undankbar? Detlef Nolte hat in seinem Vortrag gesagt, linke Regierungsprojekte müssten mehr auf Statusfragen achten, damit die Mittelschicht dabei bleibt.

Vielleicht hat er mit „Statusfragen“ Folgendes gemeint: In Brasilien etwa wurden Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg geweckt. Das ist meines Erachtens ein starker Treiber, das Versprechen, du hast es besser, du hast jetzt deine Chance. Viele sind enttäuscht zurückgeblieben. Die Gesellschaft ermöglicht ihnen zwar eventuell den Zugang zur Uni, das ist die neue Politik. Und dann? Aufstiegschancen oder Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gibt es dennoch nicht. In Brasilien kam es erneut zur Wirtschaftskrise, der Commodity Boom ging zu Ende. Enttäuschung ist ein starkes Motiv. Ich habe hier etwas versprochen bekommen, was nicht einlösbar ist. Sie haben ihre Belohnung nicht erhalten. Das verursacht dieses Kippen. Das kann auch ein Grund für die Radikalität sein, die sich in Brasilien gegen die PT und Dilma gewandt hat, wo die rechte Mobilisierung und Kampagnenfähigkeit auf einen fruchtbaren Boden fällt. Das sind junge Leute in den neuen Think Tanks, „Vem pra Rua“, zum Beispiel. Die „Studenten für die Freiheit“ sind junge, radikalisierte, rechte Elemente, die in die Demos reingehen, infiltrieren, die sozialen Medien massiv mit ihren Kanälen beeinflussen, Stimmung machen. Medien sind wirklich eine vierte Kraft.
Die Verbindungslinie zwischen Bewegung und Partei funktioniert nicht
Was macht man bloß mit den Eliten? Enteignen?! Umerziehen?!

Das ist wirklich ein Riesenproblem, in Lateinamerika ganz besonders. Sollen wir auf die Einsicht der Eliten hoffen, dass sie vernünftig sind? Das wäre ein gramscianisches Argument: Wenn ihr klug seid, kommt uns ein bisschen entgegen, denn nur so könnt ihr eure Führungsrolle behalten. Aber auf einsichtige Eliten in Lateinamerika zu zählen, ist ein sehr unsicheres Projekt, weil sie sehr klassenbewusst sind und auch zu militanten Mitteln greifen, um ihre Pfründe und ihren Einfluss zu retten. Und Enteignung? Radikale Schritte, etwa in Venezuela, Bolivien oder Argentinien, sind ja durchaus unternommen worden, aber die Gegenwehr ist immens, siehe die LKW-Streiks in Argentinien im Jahr 2008, als die Agrarexporteure zur Kasse gebeten werden sollten.
Was wir als Alternative stets hören, ist dies: gelebte antikapitalistische Praxis auf der lokalen Ebene. Eigentlich handelt es sich dabei um Überlebensökonomie, so ist es auf der Tagung hier auch benannt worden. Aber wie übersetzt man das, was auf der lokalen Ebene erprobt wird und in einem beschränkten Rahmen vielleicht auch funktioniert? Wie übersetzt man das in größere Strukturen und auf eine andere Ebene? Wie kann demokratische Planung gelingen? Die staatssozialistische Planung konnte ja nicht überzeugen. Wie kann man größere Strukturen sozial inkludierend, nachhaltig, partizipativ gestalten? Das bleibt eine Herausforderung für jede Bewegung. Dieses Zusammenspiel funktioniert bei uns auch nicht, zwischen der Politik der Gänge im Parlament und der Bewegung. Ich habe das in Chile so wahrgenommen, dass man zum einen eine sehr radikalisierte Bewegung auf der Straße hat, zum anderen linke Parteien, die in Institutionen Politik machen müssen, aber die Verbindungslinie zwischen Bewegung und Partei funktioniert nicht. Die Bewegung sagt: Ihr seid Reformisten, ihr vertretet uns nicht, wir schaffen unsere eigenen horizontalen Strukturen. Und die Parteien in den Institutionen kommunizieren nicht mit der Bewegung, fürchten sich vermutlich auch ein bisschen vor der Radikalität der Straße. Aber genau diese Beziehung wäre so wichtig, diese alte Idee, die aus der grünen Bewegung oder von den 68ern kommt, die außerparlamentarische Opposition, die die institutionalisierte Politik vor sich her treibt, befruchtet und stützt. Das funktioniert aber nicht und man bleibt zurückgeworfen auf die lokale Ebene, auf die durchaus wichtigen Erfahrungen in den Cabildos, in den Gemeinschaften und Stadtteilgruppen. Das bleibt eine Aufgabe für die Soziologie, für die Bewegungsforschung, aber auch für die politischen Akteure. Das sind die brennenden Fragen, auf die wir noch keine Antworten haben.

Das Interview führten Britt Weyde und Henry Schmahlfeldt am 11. September in Wuppertal. Schriftliche Bearbeitung: Britt Weyde. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 439 Okt. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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