Und: USA
Auch wenn die hiesigen Medien es derzeit kaum bemerken: die Welt dreht sich weiter. Und die Art, wie sie es tut, ist stark revolutionsbedürftig. Der verdienstvolle Thomas Moser/telepolis weist z.B. auf Unstimmigkeiten im Strafprozess um den Lübcke-Mord hin, die nicht nur an Vertuschungsstrategien in der NSU-Mordserie erinnern, sondern auch mit ihr personell verknüpft sind: über bezahlte Leute des Inlandsgeheimdienstes (“Verfassungsschutz”). Woran es wohl liegt, dass darüber aus den meisten Medien nichts zu erfahren ist?
Nein, es ist keine staatliche Zensur, es ist auch keine heimliche Verschwörung. Es sind offenliegende Mängel und Zwänge des real existierenden Medienkapitalismus. Er agiert in Zyklen, und nach einem Herdenprinzip. Starke und Schlaue setzen Themen, durchs Dorf zu jagende Säue. Durch geschickte Setzung von Themen zur richtigen Zeit gelingt es, dass die Mehrheit dem hinterherjagt. Die wenigsten Medien bewahren sich dabei kritische inhaltliche Autonomie; es dominiert, nicht zu verpassen, was andere schon entdeckt haben, nicht zu verschlafen und als langsam dazustehen. In diesem Gefüge finden kritisch reflektierende und fachkompetente Mitarbeiter*innen immer weniger Arbeitsplätze, in denen sie nicht nur ertragen sondern gefördert werden, von denen sie also leben können. So werden dann auch die Charaktere der was-mit-Medien-Leute. Dieses Sein bestimmt ihr Bewusstsein und Selbstverständnis.
Soziales Leben unter Bedingungen der Pandemie
Erst wenn der Staub der Herde sich legt, gelingt es Wenigen, hin und wieder Substanzielles ins Licht zu fördern. Dazu zähle ich das Jungle-World-Interview von Julia Hoffmann mit der Essener Epidemiologin Susanne Moebus. Ihr Fazit ist der zentrale Imperativ aus der gegenwärtigen Coronakrise: “Es fehlt den Kommunen und der Stadtplanung an innovativen Ideen, wie man das soziale Leben unter den Bedingungen der Pandemie aufrechterhalten kann – auch im Winter. Es gibt viele gute Ideen, die jetzt systematisch gesammelt werden müssten, um die Angst vor der Isolation zu verlieren. Natürlich sind wir alle genervt und wollen, dass das Virus verschwindet. Aber bis dahin müssen wir eben nach neuen Formen des Zusammenseins suchen und nach vorne schauen.” Möge unsere Oberbürgermeisterin das auch so sehen.
USA
Bei den Kolleg*inn*en von wahlrecht.de, der enzyklopädischsten deutschen Internetseite für alles, was mit Wahlen zusammenhängt, gibt es eine verlinkte Seite zu den USA, die eine komplett umgekehrte Tendenz zur deutschen Medienberichterstattung zeigt. Hier lag am frühen Morgen, also seit die Umfragen durch Zählungen ersetzt werden, Donald Trump vor Joe Biden, allerdings mit schrumpfendem Vorsprung, was vermutlich an der nachgelagerten Zählung der Briefwahlstimmen liegt.
Egal, ob das noch “gut” ausgeht, gibt es jetzt schon politische Lehren zu ziehen, womit die Jacobin-Autoren Loren Balhorn und Alexander Brentler beginnen. Sie meinen z.B.: “Nur eine Klassenpolitik, mit Basis in der Arbeiterschaft, kann die USA vor dem sozialen Verfall bewahren. Und nur massenhafte Streiks können einen Präsidenten, der sich zunehmend über das Gesetz stellt, ernsthafte Schwierigkeiten bereiten.” Die apodiktischen “Nurs” halte ich in diesem Zusammenhang für eine selbstgestellte Falle. Wenn ich nicht rechthabe, folgt die Apokalypse. Strategiebildung (und -debatte) geht anders.
Heute beim Abholen meines Mittagessens stimmte ich mit meinem Wirt überein: was könnte das für ein schönes Land sein, wenn nur die Leute nicht wären. Ja, sagte er, das kann mann für viele Länder sagen. Ich würde es aktuell so zuspitzen: ein Land, das die Peanuts hervorgebracht hat, muss auch schöne Seiten haben. Uli Krug/Jungle World klärt ausserdem darüber auf, dass der Erfinder der Kinderbande Charles M. Schulz die Bezeichnung Peanuts “zeitlebens verabscheute”. Er nannte sie »den Zeitungscomic mit Snoopy, dem Hund von Charlie Brown«, worüber sich die Vermarktungsagenturen wohl ebenso zeitlebens die Haare gerauft haben dürften. Entscheidend für uns war, was “unten rauskam”. Und das ist in die Kulturgeschichte eingegangen, auf einem Ehrenplatz.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net