Kritik am angloamerikanischen Imperialismus übt ARTE gern – doch was ist mit dem französischen? (oder deutschen?)
Doch, die ARTE-Reihe “Geschehen, neu gesehen” ist wertvoll. Bei den meisten von uns wird sie Bildungslücken füllen. Ich bin meine ersten fünf Lebensjahre (1957-62) auf der Stadtgrenze zwischen Gladbeck und Gelsenkirchen in einer sog. “Mau-Mau-Siedlung” aufgewachsen (korrekte Bezeichnung war ECA-Siedlung, in diesem überragenden Werk näher erklärt), in meinem Kinderzimmer sollte es nach Meinung meiner Eltern nicht aussehen “wie bei den Hottentotten”. Der Ruhrgebietsdialekt liebt Lautmalerei. Doch sein Rassismus hatte eine politische Ursache, die die ARTE-Filmreihe von David Korn-Brzoza und Olivier Wieviorka hier richtig und angemessen kritisch erläuterte.
Gestern Abend ging es zweimal kritisch gegen die USA (D-Day und Marshallplan), und einmal gegen den britischen Imperialismus (“nicht geeignet für Kinder, Jugendliche und empfindsame Zuschauer” – die sollen nach den Vorstellungen von ARTE doof bleiben). Die Verbrechen und ihre Opfer wurden einerseits treffend gewürdigt. Bedauerlich sind die Weglassungen. Bei der Kritik am britischen Empire fehlte die politökonomische Rahmung. Was-mit-Medien-Leute meinen ja immer, das sei für TV-Glotzer*innen “zu kompliziert”. Bei ARTE halte ich das eher für einen markenschädlichen Irrtum.
Dass das mit leichter Hand machbar ist, zeigen z.B. Marlène Benquet und Théo Bourgeron in der jüngsten Ausgabe von LeMonde diplomatique mit ihrer Beschreibung der “Sponsoren des Brexit”. Die Londoner “City” habe weit mehr für als gegen den Brexit gespendet. Sie identifizieren eine “Liberatismus”-Fraktion der “zweiten Finanzialisierung”, die in Boris Johnson ihren trumpepigonalen authentischen Repräsentanten gefunden habe – weg mit dem Staat, alles uns, und der unbrauchbare Menschenrest zurück in die Steinzeit. Wer Zivilisation sehen will, soll Tierfilme gucken.
Gar nicht abwegig. Die französischen Wissenschaften haben den deutschen da einiges an Kritikfähigkeit und Bissigeit voraus. Jetzt erwARTE ich nur freudig eine ähnlich kritische Analyse / ARTE-Serie zum französischen und deutschen Kolonialismus. Weniger verbrecherisch waren und sind (!) die auch nicht – leider eher Stoff für eine Endlos-Serie.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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