Von Alex Demirović
Zur Kritik des Aufrufs #Zero Covid
Die Linke, Strategie und Perspektiven, Staatliche Politiken, Gesundheit, Covid-19
Der Aufruf #ZeroCovid hat innerhalb einer Woche eine enorme Resonanz erhalten. Fast 75.000 Menschen haben ihn bisher unterzeichnet, in den Medien wurde er vielfach erwähnt. Viele meiner Freund*innen haben ebenfalls unterschrieben. Es gab in Vorbereitung des Aufrufs eine Reihe spannender Diskussionen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung oder im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Ich habe mich dann doch nicht entscheiden können, zu unterschreiben. Mit einer gewissen Sorge sehe ich, zu welchen Verwerfungen die unterschiedlichen Einschätzungen der Pandemie auch innerhalb der Linken führen können. Insofern sind auch die mittelfristigen Folgen dieser Kampagne zu bedenken. Intentionswidrig kann sie dazu beitragen, dass die Linke in einem unübersichtlichen Feld nicht gestärkt, sondern eher geschwächt wird. Kritiker*innen und Skeptiker*innen der Corona-Maßnahmen können sich im Eindruck bestärkt sehen, dass die Linke keine verlässliche Sprecherin und erst recht keine handlungsfähige Organisatorin ist, die gegen das Krisenmanagement der Regierung Einspruch erhebt, sondern sich mit unpraktikablen Maximalforderungen auf moralische Überlegenheit beschränkt. Allein pragmatisch lässt sich der Aufruf also nicht betrachten, obwohl es sich ja eben »nur« um einen Aufruf handelt, der zudem einige richtige Zusammenhänge herstellt und wichtige Forderungen stellt. Einige meiner Kritikpunkte will ich hier festhalten:
I. Ein europäischer Lockdown ist nicht realistisch
Der Aufruf kritisiert die herrschende Strategie »flatten the curve« als gescheitert und fordert – einer Stellungnahme von Wissenschaftler*innen vom 18.12.2020 auf www.thelancet.com folgend[1] –, dass nun in einer gleichzeitigen europaweit zu verfolgenden Strategie Kontakte so weit wie möglich heruntergefahren werden sollten, um das Virus alsbald aus unserem Leben völlig zu verdrängen. Ein Ende der Pandemie wird gefordert – so als könne der Staat das verfügen und als gäbe es die Pandemie nur, weil politisch falsch gehandelt wurde. Vergleiche mit China, Taiwan, Südkorea oder Kuba legen so etwas nahe. Aber auch dort zirkuliert das Virus und ist die Pandemie nicht zu Ende, sondern kann immer wieder ausbrechen und tut es auch.
Für Deutschland allein wäre es nicht möglich, sich derart zu isolieren. Entsprechend wird eine europaweite Entscheidung für einen radikalen Lockdown gefordert. Das ist voraussetzungsvoll. Denn die Entscheidung müsste auf der Ebene der EU fallen und dann durch einzelstaatliche Entscheidungen umgesetzt werden. Im Frühjahr 2020 gab es zahlreiche einzelstaatliche Entscheidungen zur Grenzschließung. Dies wurde vielfach als Rückschritt im europäischen Prozess gedeutet und hat insbesondere in grenznahen Gebieten zu erheblichen ökonomischen und sozialen Verwerfungen geführt. Einen solchen Prozess bewusst zu initiieren, ist langwierig und angesichts der politisch sehr unterschiedlichen Regierungen eher unwahrscheinlich.
Es würde auch bedeuten, den Verkehr zu unterbrechen, die Grenzen, Häfen und Flughäfen rigoros zu schließen und alle Ankommenden Tests und Quarantänemaßnahmen zu unterwerfen. Die Konsequenz daraus wäre eine strikte Reise- und Migrationskontrolle. Im Sommer hat dies nicht funktioniert und erwies sich als bürokratische Machtfantasie. Wollte man dies ändern, wäre ein enormer Ausbau der entsprechenden Behörden und ein intensives Kontrollregime notwendig.
II. Ein Ende der Pandemie ist ohne Impfung nicht möglich
Der Aufruf zielt auf »Beendigung«, auf das »Ende«, gegen »kontrolliertes Weiterlaufen« der Pandemie – was faktisch auf eine Ausrottung des Virus hinausläuft. Dass dies gelingen könnte, erscheint nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens eher unwahrscheinlich. Alles spricht dafür, dass die Weltgesellschaft mit dem Virus wird leben müssen. Zumal dann, wenn ein nennenswerter Teil der Menschen sich nicht impfen lassen wird.
Aber so radikal ist der Aufruf wiederum nicht, denn wenn die Inzidenzen deutlich abgesenkt sein werden und die Infektionsketten durch die Gesundheitsämter wieder verfolgt werden können, soll wieder gelockert werden. Auch wenn das im Aufruf bestritten wird, so ist das ja in etwa die Politik der »kontrollierten Pandemie«, die die Regierungen in Deutschland, Österreich, Frankreich oder der Schweiz – anders als USA, Schweden oder Brasilien – verfolgt haben. Dies bedeutet aber, dass nach einer Lockerung das Virus alsbald wieder verbreitet wird.
Nicht nur ist die Forderung nach ZeroCovid also inkonsequent, sie ignoriert auch die Ungleichzeitigkeit, die entsteht. Denn in manchen Regionen Deutschlands oder Europas können die Zahlen sehr hoch, in anderen sehr niedrig sein. Es gibt also Gründe, regional ungleich zu handeln und ungleichzeitig zu öffnen oder zu schließen. Die Jo-Jo- und Ping-Pong-Effekte, gegen die der Aufruf Stellung bezieht, lassen sich nicht vermeiden. Besser wäre es, das solidarische Handeln darauf auch auszurichten.
III. Ein harter Lockdown kann nur polizeilich durchgesetzt werden
Zu Hause bleiben, Kontakte vermeiden, Masken tragen, Tracing Apps nutzen – das sind in etwa die empfohlenen Rezepte des Aufrufs. All das ist nicht neu. Das Problem, wie dies in der alltäglichen Praxis umzusetzen, wie die entsprechende Disziplin zu erreichen ist, wird nicht angesprochen. Aber das ist eine Schlüsselfrage. Denn im Alltag haben sich in den vergangenen Monaten viele nicht an die Maßnahmen gehalten und sie unterlaufen; oder sie haben sich absichtsvoll darüber hinweggesetzt, weil sie die Maßnahmen für überzogen halten und ohnehin nicht an die Existenz des Virus als Krankheitserreger glauben.
Die Konsequenz, dass der Staat zu stärkeren polizeilich Maßnahmen greifen müsste, wird nicht ausgesprochen. Sollen die Polizei und Security-Dienste verstärkt werden? Soll es Internierungen in Quarantäne-Lager geben? Der Aufruf wendet sich offensichtlich an den Staat. Aber dieser Staat sollte nicht in seiner autoritären Tendenz verstärkt werden.
IV. Die geforderte Solidarität ist zwiespältig
Der Aufruf macht sich für Solidarität stark. Das ist gut, denn damit macht er deutlich, dass es nicht um einen Befehl des Staates geht, sondern um Maßnahmen, die von Bürger*innen aus Einsicht getragen werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Aber das sollte eigentlich dazu gesagt werden: Die »solidarische Pause« bedeutet eben, auf Kontakte zu verzichten, zu Hause zu bleiben, Familienangehörige, Freund*innen, Kolleg*innen nicht zu sehen.
Der Aufruf läuft also genau darauf hinaus, das »Leben« weiterhin und radikal einzuschränken, bis die Zahlen sinken. Auf die Paradoxie der Situation hat Angela Merkel schon vor Monaten hingewiesen: Solidarisch sein bedeutet, sich zu isolieren und Distanz zu halten. Aber genau das erzeugt nicht nur viel Leid, sondern auch Ärger, Verzweiflung, Protest. Aktionismus, Radau, Schockieren, illegale Partys, Straße erobern – das kommt in den vergangenen Monaten aus rechten und irrationalen Zusammenhängen. Die Linke bietet Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Isolation an (vgl. Widmer in der WOZ, 14.1.2021). Da es sich um einen Aufruf aus linken Zusammenhängen handelt, stellt sich das Problem, wie mit dem Widerspruch umzugehen ist, nicht nur dahingehend, dass die Linke sich so emphatisch an den Staat wendet, sondern auch, dass sie hinsichtlich des Protests eine Ordnungsrolle wahrnimmt.
Den Begriff der Solidarität stark zu machen, ist richtig. Aber es wird sie unter kapitalistischen Bedingungen nicht geben. Immer wieder wird die Zahl der Verkehrs-, Krebs- oder Influenzatoten in Anschlag gebracht und mit den Covid-19-Erkrankungen und -toten verrechnet. Das ist zynisch, aber dieser Zynismus hat seine eigene Rationalität. Er besagt, dass versicherungstechnisch normalisierte Risiken von der Gesellschaft akzeptiert und nicht solidarisch bekämpft werden. Eine große Herausforderung der Solidarität wird die zunehmende Zahl der durch Impfung geschützten Personen mit sich bringen. Das Rumoren wegen mangelnder Impfstoffversorgung ist zu hören; einzelne Privilegierte drängen sich vor. Das könnte zunehmen. Schon jetzt wird argumentiert, dass die Individuen ihre Freiheitsrechte wiedererhalten müssten, wenn sie durch Impfung geschützt seien. Würde dies das öffentlich vorherrschende Argument, dann ist zu erwarten, dass es ein Hauen und Stechen geben wird, um so schnell wie möglich an eine Impfung zu gelangen. Entsprechende Entsolidarisierung kann es dann auch im Einzelhandel, im Gaststättengewerbe oder in der Touristik geben. Obwohl die Lage im globalen Süden unübersichtlich ist sowohl hinsichtlich der Infektionszahlen als auch der Verfügbarkeit von Impfstoffen, stellt sich auch in dieser Hinsicht die Frage der Solidarität. In jede weitere Diskussion muss sie aufgenommen werden. Die Covax-Initiative der WHO wird nicht ausreichen; und die Machtstellung der Melinda- und Bill-Gates Stiftung muss kritisch thematisiert werden.
V. Die Kapitalinteressen sind vielschichtiger, als der Aufruf behauptet
Die radikale Geste des Aufrufs verpufft. Sie besteht ja darin, die Regierung dazu zu bringen, endlich gegen die Unternehmen den Schutz der Beschäftigten durchzusetzen. Wenn überhaupt, wurde eher über Büros und Homeoffice gesprochen. Doch das hat sich schon vor der Veröffentlichung des Aufrufs geändert, in Medien und Talkshows wurde genau dieses Thema verhandelt.
Die Ausrichtungen der Regierungen an der Wirtschaft und am Profit ist mit Sicherheit ein entscheidender Gesichtspunkt. Aber dieser selbst ist komplex. Für den Profit kann es sinnvoll sein, die Arbeit in den Unternehmen weiterhin aufrecht zu erhalten – solange Lieferketten oder Absatzmärkte funktionieren. Auch wenn viele (ältere) Menschen erkranken oder sterben, kann es gut fürs Geschäft sein: etwa Pharmaindustrie, Medizingerätehersteller, Rentenversicherungen, Logistik- oder InfoCom-Unternehmen.
Aus dem Blickwinkel des Profits kann es jedoch auch riskant sein, die wirtschaftlichen Transaktionen aufrecht zu erhalten. Angehörige des Managements und viele Lohnabhängige können (teilweise schwer und langfristig) erkranken oder sterben (auch wenn die Risiken ungleich verteilt sind) und damit die Funktionstüchtigkeit der Betriebe in Gefahr bringen. Für den Profit kann es auch aus anderen Gründen sinnvoll sein, die Betriebe zu schließen: Der Markt wird bereinigt, angesichts geringer Nachfrage lassen sich Kosten vermeiden, staatliche Unterstützung kassieren und die Lohnabhängigen, mit Kurzarbeitsgeld an die Unternehmen gebunden, gleichzeitig gesundheitlich schützen, um sie dann, wenn die Wirtschaft wieder anzieht, sofort in die Produktion zurückzuholen. Ein Lockdown trägt dazu bei, dass die Verluste, die eine Pandemie für die Wirtschaft verursacht, ab einem bestimmten Grenzwert niedriger bleiben als die Kosten im Fall einer aufrechterhaltenen Öffnung. Es ist eine widersprüchliche Bewegung: Wann sind die Verluste größer oder niedriger, wann die unmittelbaren Kosten höher? Mit welchen langfristigen Wettbewerbsvorteilen oder Kosten ist zu rechnen? Kapitalinteressen sind unterschiedlich und durchaus konfliktreich. Der Staat tritt nicht für das Kapitalinteresse im Allgemeinen ein, denn das gibt es nicht.
Auch unter diesem Aspekt verspricht der Aufruf zur »solidarischen Pause« mehr als gehalten werden kann, denn viele Betriebe können gar nicht geschlossen werden. Es gibt die stoffliche Seite zu bedenken. Nahrungsmittelindustrie und der entsprechende Einzelhandel, die Logistik, die Produktion von Ersatzteilen, der öffentliche Verkehr, die Alten- und Pflegeheime, die pharmazeutische und medizinische Versorgung. Auch Parlamente, Verwaltung oder Medien müssen weiter funktionieren. Die Autor*innen wollen auch die Betreuung für Kinder gewährleisten. Allenfalls ein Teil der Wirtschaft kann pausieren. Hier wäre es erforderlich, unter Beteiligung der Lohnabhängigen selbst genauer zu bestimmen, welche Bereiche unter stofflichen Gesichtspunkten erforderlich sind. Vorteile für Logistikunternehmen wie Amazon, die zu Lasten des Einzelhandels gehen, sollten ausgeglichen werden. Die Lohnabhängigen, die in diesen Bereichen arbeiten, die Grundversorgung aufrechterhalten und dafür erhebliche Risiken eingehen, müssten durch entsprechende Arbeitsverhältnisse und Einkommen unterstützt, geschützt und entschädigt werden. Unter stofflichen Gesichtspunkten wären alternativ zur Schließung andere Maßnahmen denkbar: Verzicht auf Leistungsverdichtung und Überstunden, mehr Beschäftigte einstellen, Abstände gewährleisten, Schutzkleidung, Schnelltests, kürzere Arbeitszeiten.
Wichtige Fragen werden leider nicht angesprochen, etwa die nach der Art und Weise des wirtschaftlichen Ausgleichs. Wenn der Staat eine Schließung beschließt, konstituiert er Rechtsverhältnisse und ist verantwortlich; er trifft Entscheidungen über die Struktur von Wirtschaft, Kultur, Bildung etc. Viele Unternehmen, Betriebe, Einrichtungen werden eine längere Phase ohne Einnahmen nicht überbrücken können. Die Folgen solcher Maßnahmen hören nicht mit dem Ende des Lockdowns auf. Wie werden die Langfristfolgen mitbedacht? Ein weiterer Aspekt besteht darin, die Hilfsmaßnahmen in der Perspektive einer Transformation an Bedingungen zu knüpfen. Es ist nicht plausibel, dass gewinnorientierte Unternehmen mit den Mitteln der Allgemeinheit (zu Lasten anderer) gerettet werden, dann aber nicht auf Allgemeinwohlziele verpflichtet werden, also Verzicht auf Gewinne, soziale Ausgestaltung der Arbeit und Einkommen der Beschäftigten, Parität, ökologische Unternehmensziele, demokratische Lenkung der Unternehmen.
VI. Die Gefahren für die Demokratie fallen unter den Tisch
Merkel hat Recht, wenn sie betont, dass das Virus eine Zumutung für die Demokratie ist. Es hätte seit Februar 2020 genügend Gründe gegeben, die Politik von Bundes- und Landesregierungen zu kritisieren. Von Parlamenten in früheren Jahren erarbeitete Empfehlungen für Pandemien wurden nicht umgesetzt. Die Parlamente waren nur wenig oder gar nicht an Diskussionen und Entscheidungen beteiligt oder haben sich temporär selbst aufgelöst. Einseitig wurden Religionsgemeinschaften begünstigt oder Demonstrationen kritischer Akteure benachteiligt. Die Ministerpräsident*innen haben vielfach nach partei- oder landespolitischen Gesichtspunkten gehandelt. Gesundheitsminister Spahn hat absichtsvoll oder irrtümlich viele Fehler gemacht und öffentlich die Unwahrheit gesagt: die Krankheit mit einer Grippe verglichen, den Nutzen von Masken bestritten; er behauptete, es gäbe ausreichend Intensivbetten oder Schutzkleidung, die Gesundheitsämter würden besser ausgestattet, die materielle Situation der Pflegekräfte deutlich verbessert, Impfstoff käme früher, Krankenhäuser finanziell unterstützt. Wenig ist geschehen.
Öffentliche Unterstützung für Kleinunternehmen, Gaststätten oder breite Bereiche der Kultur gab es zu wenig oder gar nicht. Die Schulen wurden in den Sommer- und Herbstmonaten nicht ausreichend auf eine zweite Welle vorbereitet. Kitas sind überlastet, Betreuer*innen nur unzulänglich geschützt, Testkits werden nicht und FFP2-Masken nur unzureichend über Apotheken und Einzelhandel billig oder kostenlos abgegeben. Im Frühjahr wurde zu früh gelockert, vor Weihnachten zu lax geschlossen. Mit dem Lockdown light ab dem 2.11.2020 gab es keine regionale oder funktionale Differenzierung bei den Schließungen, obwohl sie aus infektiologischer Sicht möglich gewesen wären. So könnten Museen, Kinos oder Restaurants nach einer in der Schweiz durchgeführten Verbreitungsstudie vermutlich geöffnet bleiben.
In der ersten Welle der Pandemie gab es viel Unterstützung und Solidarität von unten. Aber das wurde öffentlich nicht oder wenig gestützt. Bei den Schutzregelungen werden immer wieder konventionelle Bilder von Haushalt, Familie oder Alten in Anspruch genommen. Auch im Aufruf spielt diese aktive Form der Solidarität keine weitere Rolle.
Zur Demokratie gehören die Praktiken der Öffentlichkeit. Die Politik hat sich an die Querdenker*innen ängstlich angebiedert und auf sie Rücksicht genommen. Die Medien haben mitgespielt. Über jede kleine Ansammlung von Corona-Leugner*innen wurde ausführlich berichtet, in den Talkshows endlos diskutiert. Dort waren auch immer wieder die oft kenntnisreichen Epidemiolog*innen, Infektiolog*innen, Virolog*innen zu hören, von denen viel zu lernen war. Sie unter Ideologieverdacht zu stellen, wie das auch in der Linken geschieht, ist unangemessen. Aber es wäre sachlich geboten gewesen, auch Rassismusexpert*innen, Wissenschaftssoziolog*innen, Demokratieforscher*innen, Medien- und Kommunikationswissenschaftler*innen, Katastrophenforscher*innen, Ökolog*innen oder politische Ökonom*innen zu Wort kommen zu lassen. Der kulturindustrielle Öffentlichkeitsbetrieb erweist sich für die Praxis einer offenen demokratischen Diskussion als ungeeignet. Angesichts des verbreiteten und nicht immer unberechtigten Misstrauens hätte dieser Frage im Aufruf mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müssen.
Die gesellschaftliche Linke, die LINKE oder die Bewegungsorganisationen haben wenig getan, diese konventionelle Vorstellungswelt kaum angegriffen, Solidarität wenig organisiert und die Straße und die Plätze weitgehend den Corona-Rebellen, Querdenker*innen und Rechtsradikalen überlassen. Es gab immerhin die Proteste von Antifa-Gruppen oder von Fridays for Future und jüngst von den kritischen Bäuer*innen, die andere Themen auf die Agenda setzten. Hieran wäre anzuknüpfen mit weiteren Aktivitäten.
Im Aufruf spielt die Demokratie leider nur eine marginale Rolle. Allenfalls die Beteiligung der Beschäftigten wird angemahnt, aber diese orientieren sich oftmals partikularistisch. Es ist mehr nötig. Breite Willensbildung von unten, Ausbau der kommunikativen und kritischen Infrastruktur für demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, für neuartige Repräsentations- und Delegationsverfahren sollten Gegenstand weiter gehender Diskussion sein. Es stellt offensichtlich eine Herausforderung dar, demokratisches Entscheiden und Handeln auch in tiefen Krisen zu ermöglichen und zu sichern.
VII. Der Verweis auf die Wissenschaft ersetzt keine Politik
Ich vermute, dass viele den Aufruf unterschrieben haben, weil sie noch weitere Erkrankungen und den Tod vieler Menschen durch die Pandemie befürchten und die Regierung nachdrücklich an ihre Verantwortung erinnern wollen. Sie haben wahrscheinlich damit keine bestimmte Vorstellung von »Naturgesetz« oder »Staat« unterstützen wollen. Dennoch ist es vielleicht sinnvoll, ganz kurz darauf einzugehen. Denn einige der Initiator*innen argumentieren ja mit der Naturgesetzlichkeit des Virus. Seine Wirkungen seien zu akzeptieren, es gäbe nichts abzuwägen. Doch so einfach ist es nicht.
All die Naturwissenschaftler*innen, die uns in den vergangenen Monaten gelehrt haben, was es mit dem Virus auf sich hat, haben auch bestätigt, dass wissenschaftliche Erkenntnis selbst durch Erfahrung und Forschung immer wieder korrigiert werden muss und von einem »wissenschaftlichen Konsens« kaum die Rede sein kann. Sars-CoV-2 ist ein von uns erkanntes Virus, mit dem wir unfreiwillig im Stoffwechsel leben und noch lange leben werden. Mehr Forschung ist dringend erforderlich, denn viele Fragen sind ungeklärt.
Wir sind aber nicht einfach seine Opfer, sondern können auf der Basis von überprüfbarem Wissen handeln. Das ist mit Blick auf Viren menschheitsgeschichtlich eine eher noch neue Erfahrung. Wir behalten unsere Freiheit und treffen Entscheidungen, die entweder autoritär, liberal, sozialdarwinistisch oder autonom-sozialistisch sein können. Eine Null-Reduktion ist nicht zu erwarten, der Aufruf sagt es selbst, es geht um Eindämmung. Aber wie diese verfolgt wird, wo die Grenze verläuft, ist nicht naturwissenschaftlich gegeben. Das hängt von den Kräften in der Gesellschaft ab; wir verhandeln gesellschaftlich, welche Zahl von Infizierten uns tragbar erscheint: 50, 25, 7 oder 1 pro 100.000.
Im Sommer 2020 lag die Inzidenz bei 5–7 Personen/100.000, die Zahl 1 zu erreichen würde auf einen sehr langen Lockdown mit erheblichen sozialen Kosten hinauslaufen. Es ist eine politische Entscheidung auf der Grundlage einer Güterabwägung, die stoffliche Versorgung, den Erhalt des Produktionsapparats, die kapitalistischen Gewinne, die Freiheit der Individuen, die demokratischen Rechte, das psychische Wohlbefinden, das Lernen und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, Krankheiten und Tod in ein Verhältnis setzen muss. Der Rückgriff auf an sich geltende Naturgesetze erscheint mir eine autoritäre Gefahr zu beinhalten, wenn wir an mögliche weitere Pandemien oder an die noch weit größeren Herausforderungen ökologischer Krisendynamiken denken. Eine solche Unterwerfungshaltung sollte nicht eingeübt werden. Gesellschaftliche Verhältnisse, Demokratie und wissenschaftliches Wissen sollten in dieser kritischen Perspektive weiterentwickelt werden, so dass sie in und durch Krisen nicht außer Kraft gesetzt werden.
Dieser Text erschien in einer kürzeren Fassung auch bei ak.
Anmerkung
[1] Vgl. eine aktualisierte deutsche Fassung bei zeit-online.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von Luxemburg, mit freundlicher Genehmigung des Autors: Alex Demirović ist Philosoph und Sozialwissenschaftler und hierzulande einer der eingriffslustigsten linken Intellektuellen. Er lehrte unter anderem an den Universitäten in Frankfurt am Main und Berlin, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Stiftung und Gründungsmitglied der Zeitschrift Luxemburg.
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