Es besteht durchaus die Aussicht, dass die gegenwärtige Pandemie irgendwann überwunden sein wird. Was dann folgen wird, wissen wir naturgemäß nicht. Die Zukunft ist und bleibt ungewiss. Dennoch kann man der Zukunft Struktur geben, indem man Erwartungen formuliert (Niklas Luhmann). Eine der vorherrschenden Erwartungen drückt sich in dem Wunsch aus, dass alles wieder so wird wie vorher. Es soll alles wieder normal werden. Die Sehnsucht nach Normalität ist umso intensiver und verständlicher, je länger die Pandemie dauert.
Rückkehr zur Normalität?
Aber was heißt schon normal? Darüber dürften die Meinungen sehr auseinander gehen. Dass Menschen sich nicht näher als 1,50 oder 2 Meter kommen dürfen und sich mit ausgesteckter Faust oder dem Ellbogen begrüßen, statt sich die Hand zu geben oder sich gar zu umarmen, ist ohne Zweifel nicht normal. Positive Berührung ist lebenswichtig. Sie regt die Ausschüttung des Glückshormons Oxytocin an und stimuliert Gefühle. Umarmung stiftet Frieden. Bewusste Distanz ist meist ein Ausdruck von Misstrauen.
Dass Menschen ihre Gesichter in der Öffentlichkeit vermummen, kennen wir in unserem Kulturkreis aus dem Karneval. Bei Versammlungen (§ 17a Versammlungsgesetz) und beim Führen von Kraftfahrzeugen (§ 23 StVO) ist das Bedecken des Gesichts verboten. Das biometrische Passfoto dient der amtlichen Identitätsfeststellung. Lächeln ist dabei nicht erlaubt. Die menschliche Mimik stiftet jedoch erst die persönliche Identität, denn zu ihr gehören Gefühle. Sie hat eine essentielle kommunikative Funktion. Sie drückt sichtbar Sympathie, Abneigung, Trauer, Freude und Angst aus. Die obligatorische Maske reduziert diese Fenster auf die Augen.
Es wird wahrscheinlich lange dauern, bis wir den negativen Corona-Reflex, im anderen Menschen erst einmal eine Gefahr zu sehen, wieder abgebaut haben werden. Welche Folgen das für die menschliche Gemeinschaft haben wird, dürfte nicht nur die Sozialpsychologie interessieren.
Dass Kinder nicht in die Kita und zur Schule gehen dürfen oder sollen, ist grausam und alles andere als normal. Es ist ein Eingriff in ihre Entwicklungschancen. Die erlittenen Traumata von Kindern überforderter Familien sind noch nicht absehbar.
Gemeinsam lernen, gemeinsam arbeiten, gemeinsam Spaß haben, miteinander feiern, gemeinsam singen und tanzen, gemeinsam trauern, gemeinsam Kultur erleben im Theater, im Konzert, in der Ausstellung, gemeinsam Sport machen und zuschauen, eben all jene Dinge zu tun, die uns jetzt nicht möglich sind – diese Formen der Normalität werden wir mit Freude und vielleicht mehr Wertschätzung genießen. Darüber dürfte es kaum Meinungsverschiedenheiten geben.
Wenn es aber darum geht, welche gesellschaftliche und wirtschaftliche Normalität man sich zurückwünscht, wird der Konsens schnell brüchig werden, weil jeder Mensch eine eigene Wahrnehmung seiner Umgebung hat. Und diese Wahrnehmung prägt die Vorstellung davon, was als normal angesehen wird. Abweichungen davon werden als anormal empfunden. Diese Form von Normalität hat einen ausschließenden Charakter. Mit ihr beginnt die Diskriminierung.
Wirklichkeits- und Zeitverleugnung
Da der Mensch vor allem aus Erfahrungen lernt, kommen der Zeitspanne und dem Ort der Erfahrung entscheidende Bedeutung zu. Wer wie ich 1950 in Deutschland geboren ist, hat Krieg und Diktatur nie an eigenem Leib erlebt. Und es ging wirtschaftlich immer nur bergauf. Wer nie etwas anderes erlebt hat, hält das für normal. Dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt eine gefährliche Illusion ist, gehörte bislang nicht zu meinem unmittelbaren Erfahrungswissen. Seit die Folgen des Klimawandels auch in gemäßigten Klimazonen in Form von Extremwetterlagen, Waldbränden und Überschwemmungen erlebt werden, ist das Thema auf der Tagesordnung nach oben gerutscht. Corona hat es von dort verdrängt, aber unmittelbare Auswirkungen auf die weltweit gemessenen klimaschädlichen Emissionen. Die Luft in vielen Großstädten der Welt ist besser geworden. Wer in New Delhi lebt und unter Asthma leidet, wird sich eine Rückkehr zur alten Normalität kaum wünschen.
Die Zahl der beförderten Fluggäste an deutschen Flughäfen ging laut Statistischem Bundesamt im 2. Quartal 2020 um 97% zurück. Wessen Arbeitsplatz vom Flugverkehr abhängt, wird sich möglichst bald eine Rückkehr zur alten Normalität wünschen. Wer in einer der Einflugschneisen deutscher Flughäfen wohnt, dürfte sich über die Ruhe im Lockdown freuen.
Der undifferenzierte Wunsch nach Rückkehr zur Normalität ist ein Ausdruck von Wirklichkeits- und Zeitverleugnung, denn es gibt kein zurück. Zeit ist unerbittlich. Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben (Sören Kierkegaard). Die Zeiger der Uhr lassen sich nicht zurückdrehen.
Wenn wir wirklich am Ende von 3000 Jahren Kulturgeschichte stehen, wie es der Historiker und Philosoph Philipp Blom behauptet, ist die Pandemie womöglich der sichtbare Beleg dafür. Der vielleicht nur falsch übersetzte oder missverstandene Satz aus dem alten Testament „Macht Euch die Erde untertan“ (Gen 1,28) hat genügend Unheil angerichtet. Die Zeit für ein neues Verständnis des Menschen als Teil der Natur ist mehr als reif.
Wenn das Plankton für das Leben auf unserem Planeten wichtiger ist als der Mensch, wie Philipp Blom es in einem sehenswerten Gespräch mit dem Schweizer Fernsehen sagt, wäre etwas mehr menschliche Demut und Bescheidenheit angebracht.
Hin zu einer Neuen Normalität
Welche Normalität wünschen wir uns also für die Zukunft? Wie soll die Welt für nachfolgende Generationen aussehen? Der Autor Jonathan Franzen stellt in seinem in seinem 2020 erschienenen Buch (1) die provokante Frage „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ Vielleicht wäre wirklich der erste Schritt zu einer Neuen Normalität das Akzeptieren der Wirklichkeit. Denn nur dann, können wir uns in unserem Tun darauf einstellen. Statt einer lähmenden Dystopie eine motivierende Utopie? Immerhin hat Joe Biden in seiner Antrittsrede angekündigt, dem Pariser Klimaschutzabkommen wieder beizutreten und einer Politik der Leugnung und Erfindung von Fakten den Kampf angesagt.
Neue Normalität wäre in vieler Hinsicht genau das Gegenteil von dem, was wir bisher als normal angesehen haben, weil wir es so und nicht anders kennen oder kannten.
Neue Normalität hieße z. B. aufzuhören, den Regenwald dem Hunger nach billigem Fleisch zu opfern. (2) Man holzt nur so viel ab, wie im gleichen Zeitraum nachwächst – das wäre normal. Für unsere Landwirtschaft hieße das, man hält nur so viele Tiere, wie es das Land zulässt und zwar sowohl von der Futterseite als auch bei der Verwertung der Gülle. Der massenweise Export billigen Schweinefleisches nach China von Tieren, die nie das Tageslicht gesehen haben, wäre nicht Teil der Neuen Normalität. In Deutschland werden jährlich 45 Millionen männliche sogenannte Eintagsküken wegen mangelnder Rentabilität der Mast geschreddert oder vergast, das sind über 126.000 Tiere täglich. Das ist eine Art von alter Normalität, die in Deutschland seit Jahren praktiziert worden ist und demnächst hoffentlich endgültig überwunden sein wird.(3)
Spitzengehälter von Managern, die das 150-fache und mehr von dem Lohn eines Facharbeiters beziehen, sind heute ebenso normal wie obszön. Neue Normalität hieße, Respekt vor anständiger Arbeit und Anstand im Umgang mit Menschen den Vorrang vor ungezügelter Gier zu geben. Während der Pandemie sind Pflegekräfte auf Intensivstationen systemrelevanter als Investmentbanker. Das sollte dauerhafte Folgen haben.
Kriminelles Verhalten gehört bestraft und nicht vertuscht, egal ob in der Kirche oder in Autokonzernen. Das sollte Bestandteil einer neuen Normalität sein, in der ethische Maßstäbe nicht nur, aber auch in der Strafverfolgung zur Geltung kommen.
Alles außer normal?
Was wir während der Pandemie erleben, ist alles andere als normal. Die Prioritäten haben sich drastisch verändert, für jeden wahrscheinlich ein bisschen anders. Ein kleines Virus hat der Krone der Schöpfung Grenzen aufgezeigt. Das könnte eine heilsame Wirkung haben, wenn es gelänge, nicht einfach in den alten Trott zu verfallen, sondern Normalität neu zu begreifen. Das Zeitfenster dafür ist nicht sehr groß, denn die Schockwirkung der Pandemie könnte schnell verblassen. Wenn es stimmt, dass die Aktienmärkte Entwicklungen vorwegnehmen, dürften die CO² Emissionen bald wieder das Niveau der Vor-Corona Zeit erreichen. Das Wirtschaftswachstum, das die Steuereinnahmen generieren soll, die notwendig sind, um die während der Pandemie angehäuften neuen Staatsschulden (4) zu begleichen, lässt für unseren Planeten nichts Gutes erwarten. Angela Merkel sagte kürzlich, diese Pandemie sei eine Jahrhundertkatastrophe, was unterstellt, dass solch eine Katastrophe nur einmal in hundert Jahren vorkommt. Jonathan Franzen nennt unseren gegenwärtigen historischen Augenblick eine wilde Anonmalie. Unlösbare Probleme seien das menschliche Schicksal. (5) Natürlich fällt einem dabei Sisyphos ein, dessen Aufgabe es war, einen Felsblock einen steilen Hang hinaufzurollen. Ihm entglitt der Stein jedoch stets kurz vor Erreichen des Gipfels und er musste immer wieder von vorne anfangen. Für Franzen kein Grund zur Resignation. Zu wissen, dass nichts ewig währt, erhöht die Wichtigkeit dessen, was uns wertvoll und lieb ist. Darin könnte, so paradox es klingen mag, die einzige Chance liegen, die die Pandemie uns eröffnet hat.
Anmerkungen
(1) Jonathan Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?, Hamburg 2020
(2) Jedes Jahr werden ca. 160.000 Quadratkilometer tropischer Regenwald abgeholzt. Drei Fußballfelder pro Sekunde.
(3) Ab Januar 2022 soll damit endgültig Schluss sein.
(4) Die Verschuldung von Bund, Ländern und Kommunen dürfte zurzeit bei ca. 2, 3 Billionen EUR liegen. 2004 lag sie noch bei 1,4 Billionen.
(5) Er nennt es die „grundlegende Conditio humana“
Zu den Überlegungen von Hanspeter Knirsch passen so manche Aussagen im neuen Buch von Wolfgang Schorlau*, das ich gerade lese. Im “Kreuzberg Blues” lässt der Autor Jakob, den Sohn seines Hauptakteurs, des Privatermittlers Dengler, dies sagen: “Jetzt, da der Kapitalismus duch die Verbrennung fossiler Rohstoffe seinem wohlverdienten Ende entgegengeht, können wir eine Gesellschaft und eine Wirtschaft planen, die unser eigentliches Menschsein in den Mittelpunkt stellt. Was uns als Menschen ausmacht, ist, mit Menschen und für Menschen zu leben. Rücksicht, Miteinander, Behutsamkeit gegenüber der Natur, diese Dinge. Es wird etwas Neues kommen. Oder wir verschmoren. Ob das Neue gut oder schlecht wird, hängt auch von unserem Engagemen ab.” Soweit so gut. Nur, wer ist das “wir”, wer sind die Menschen, die das Neue gut machen können. Jakob spricht in Schorlaus Roman uns alle an: “Es reicht nicht mehr, ein anständiger Mensch zu sein. … Es reicht nicht mehr, persönlich anständig durchs Leben zu gehen. Heute muss sich ein guter Mensch einmischen…. Aktiv sein. Das Böse sehen. Das Böse bekämpfen.” Jeder von uns kann und muss das in seinem eigenen Bereich tun. Nur es wird nicht reichen, wenn die Herrschenden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht auch endlich über den kleinen Tellerrand ihrer Gier nach Macht und Geld blicken, um die Katastrophe, der wir unaufhörlich entgegengehen, noch zu verhindern.
Hanspeter Knirsch schreibt: “Zu wissen, dass nichts ewig währt, erhöht die Wichtigkeit dessen, was uns wertvoll und lieb ist. Darin könnte, so paradox es klingen mag, die einzige Chance liegen, die die Pandemie uns eröffnet hat.” Auch hier stellt sich jedoch die entscheidende Frage: Wer ist das “wir”, wer sind die Menschen, die eine neue und, wie von Hanspeter beschrieben, notwendige Normalität definieren und in die gesellschaftliche und politische Realität hineintragen können?
* Wolfgang Schorlau, Kreuzberg Blues, Kiepenheuer & Witsch, 2020
Lieber Michael, Jakob in Schorlaus Roman hat natürlich vollkommen recht. Es reicht nicht aus eine gute Gesinnung zu haben. Seit Max Weber spricht man deshalb von Verantwortungsethik, die über die reine Gesinnungsethik hinaus geht. Bleibt immer noch die Frage: Wer ist wir? Mahatma Gandhi gibt uns den Rat: Wir selbst müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen. Wir sollten uns dabei allerdings nicht überfordern, denn sonst landen wir schnell in der Resignation. So habe ich auch meine Schlussfolgerung gemeint: Die Besinnung auf das, was uns wirklich lieb und wertvoll ist. Wenn sich jede/jeder von uns diese Frage ab und zu stellt, finden wir vielleicht auch ein neues Wir.