Volksparteien sind tot, und zwar ersatzlos
Ich habe Volksparteien noch gekannt. Wenn sie nicht “wie Fische im Wasser” schwammen, unterhielten sie doch eine 2-Wege-Kommunikation in die Gesellschaft da draussen. Sie nahmen nicht nur auf und wahr, was meinungsbildende Kräfte im gesellschaftlichen Alltag dachten und taten – und überliessen das nicht ausschliesslich kommerziell interessierten Marktforschungskonzernen, die sich scheinwissenschaftlich als “Umfrageinstitute” tarnen. (Ihre Methoden sind nicht wissenschaftlich überprüfbar, weil sie als Geschäftsgeheimnisse gehandhabt werden.) Nein, die Parteien haben in ihren besten Zeiten sogar versucht, öffentliche Diskurse zu steuern und zu beeinflussen.
Gut, viele nahmen es als Befreiung wahr, dass das stark nachgelassen hat. Für die Parteien selbst hat das jedenfalls nur Nachteile.
Heute sind noch halb so viele Menschen Mitglied einer Partei wie 1990. Damals waren die Zahlen aufgebläht, weil die Blockparteimitglieder der DDR aufgesaugt wurden. In der BRD ohne DDR, ca. Mitte der 70er Jahre, war der eigentliche Höhepunkt parteipolitischen Engagements. Es gab zwei reale Volksparteien: die SPD als die Grössere, die CDU/CSU als die Mächtigere.
Gesellschaftliche Standbeine der SPD waren die Gewerkschaften, Sozialkonzerne und -verbände, Verwaltungen der von ihr beherrschten Grossstädte, Sportvereine, Evangelische Kirche, Hochschulen und Weiterbildung.
Standbeine der CDU/CSU waren Industriekonzerne und -verbände, weitere Sozialkonzerne, Katholische Kirche, Ordinarienuniversitäten, berufsständische Verbände (= “gelbe” Gewerkschaften), Karnevals- und andere Brauchtumsvereine (Schützen, Burschenschaften etc.).
Alles zusammen bildete den bundesdeutschen Korporatismus, der von 1949 bis Ende der 60er Jahre gut funktionierte. Sehr schön bilden das bis heute z.B. die Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher Medienanstalten ab – so wie ihr Programm, das unten rauskommt, ihre Gestrigkeit täglich demonstriert. Die Grosse Koalition 1965-69, die das alles zusammenhalten sollte, sorgte in einem wunderbaren Akt praktischer Dialektik für den Beginn seines Zerbrechens. An seine Stelle ist kein “Ersatz” getreten. Die starrsinnigen Konservierungsversuche seit Ende der 60er sorgten für seine bis heute anhaltende Implosion, die, gebremst durch die Übernahme der DDR 1990, mittlerweile als Niedergang erkannt wird. Alle genannten gesellschaftlichen Kräfte und Organisationen sind durch die neoliberale Individualisierung nachhaltig geschwächt. Die Parteien als verfassungsrechtlich besonders privilegierte Organisationsform besonders.
Der Irrtum
Parteien, die viele Wähler*innen*stimmen erobern, werden heute leichtfertig als “neue Volkspartei” tituliert, gegenwärtig also die Grünen. Das ist lächerlich. Sie haben heute ein Zehntel der Mitgliederzahl, die die SPD in den 70ern ohne DDR in der BRD erreicht hatte. Da sind die zahlreichen Neumitglieder, die sich von einer zukünftigen Regierungspartei-Mitgliedschaft (legitimerweise!) Vorteile erhoffen, schon mitgezählt. Abgerechnet werden muss – das gilt allerdings für alle Zeiten – die reale Mehrheit der inaktiven Karteileichen. Das sind die Parteimitglieder, die auch nicht mehr wissen, als sie in Zeitungen und asozialen Medien gelesen haben.
Die Grünen sind also mitnichten eine Volkspartei. Sie sind, was schlimmer ist, eine moderne, zeitgemässe Partei. Sie bieten sich als Politik-Dienstleister*innen an, und sind dem Anschein nach für dieses Angebot eindeutig der qualitativ stärkste Anbieter. Sie steuern nicht mehr den Meinungsmarkt, sie surfen auf ihm, begünstigt durch den demografischen Wandel. Die Grünen sind die Boomer-Partei. alle Konkurrenzparteien leiden unter wegsterbenden Mehrheiten ihrer Mitgliedschaft. Alle Parteien, für die das nicht gilt, rangieren derzeit (noch) unter den Sonstigen – ausser den Grünen. Die Demografie lehrt gleichzeitig, dass das nicht so bleiben wird. Die bevorstehenden Veränderungen, unter denen die Grünen zu leiden beginnen werden, kommen nur langsam, weil die radikalen Jungen noch so wenige sind. Aber sie werden mehr.
Die Grünen werden also ein bedeutender Teil der Bundesregierung, die in diesem Jahr gewählt wird. Wie lange sie es dort aushalten werden, liegt begrenzt auch in ihrer eigenen Hand. Wie weit werden sie aus der Regierung heraus noch die Chance haben, gesellschaftliche Wirklichkeit wahrzunehmen? Das gelingt schon heute, in einer Hauptstadtblase am Rande der Republik, nur noch schlecht, und wird sich durch Regieren, wie es heute Praxis ist, nicht verbessern.
Das Risiko wächst, zu Blättern im Wind zu werden. Glaubwürdige, attraktive Persönlichkeiten, deren Bedeutung für Wahlerfolge zu Lasten ihrer Parteien zunimmt, verlangsamen diesen Prozess, machen ihn (Dialektik!) aber gleichzeitig nachhaltiger.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net