Der folgende Beitrag erschien im Buch “Grundrechte verwirklichen – Freiheit Erkämpfen” – 100 Jahre Jungdemokrat*innen  im Academia-Verlag 2019, hg. von Roland Appel und Michael Kleff. Der Autor war von 1973-1974 Bundesvorsitzender der damaligen Jugendorganisation der FDP, er trat 1982 aus und war langjähriger Vorsitzender der Liberalen Demokraten, heute ist er in der Partei “Die Linke” aktiv. Der vorliegende Text entstand 2003.

Von Prof. Friedrich Neunhöffer

Demokratie heißt, wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt, Stärke des Volkes. Stark ist der, dessen Interessen sich durchsetzen. Ein System ist insoweit demokratisch, als es die Entscheidungsträger zwingt, sich an den Interessen des Volkes zu orientieren. Volk ist dabei durchaus ein parteilicher Begriff. Die Griechen beobachteten in ihrer Modellwelt von Stadtstaaten regelmäßig zwei Parteien: Das Volk (demos, die Vielen) und die Wenigen (die sich gerne selbst als die Besten sahen). Wenn in einer Stadt die Partei des Volkes an der Macht war, so sprachen sie von Demokratie. Diesen Begriff haben wir als Namen für unsere Staatsform übernommen.

Was sind die Interessen des Volkes? Theoretisch ist die Frage schwierig, da niemand befugt ist, diese Interessen zu definieren. Praktisch hat sie sich zu allen Zeiten durch Augenschein beantwortet. Generell hat das Volk ein Interesse an Gleichheit; nicht an völliger, da das nicht funktioniert, aber an möglichster. Alle Ungleichheiten gehen ja zu seinen Lasten; die Masse kann nicht privilegiert sein. Da das Volk von seiner Arbeit lebt, hat es ein Interesse daran, dass der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen möglichst hoch ist. Vollbeschäftigung war zu allen Zeiten ein dringendes Anliegen des Volkes. Sachgerechte Information ist ein weiteres, da es ohne sie seine demokratischen Rechte nicht sinnvoll gebrauchen kann. Und das Volk braucht einen funktionierenden Staat, der seine Rechte und Lebensgrundlagen schützt; es weiß, dass es im System “der freie Fuchs im freien Hühnerstall” nicht der Fuchs ist.

Das Interesse der Wenigen ist von dem allem das Gegenteil: Großer Abstand zum Volk, sowohl überhaupt als auch in den Einkommen; also niedrige Löhne, hohe Gewinne und Besitzeinkommen. Ein gewisses Maß von Arbeitslosigkeit, um die Untergebenen besser im Griff zu haben. Ein Informationswesen, das das Volk vom Gebrauch seiner Macht abhält, also manipulativ und möglichst entpolitisierend. Und ein Staat, der einem nicht in den Arm fällt.

Das Volk gebraucht seine Macht in Wahlen und Abstimmungen. Diese Formen von Demokratie werden oft mit ihrem Inhalt verwechselt. Sie sind notwendige Voraussetzungen von Demokratie. Sie tragen auch einiges zur Stärke des Volkes bei: Es muss immerhin gefragt werden. Der Spontispruch “Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie schon längst abgeschafft” lässt sich leicht widerlegen, indem man ihn umkehrt: Wenn Wahlen abgeschafft würden, würde sich einiges ändern. Aber Wahlen allein sind noch keine Garantie demokratischer Inhalte.

Wahlen sind ein Verfahren zur Messung von Macht. Macht ist dabei definiert als die Fähigkeit, auf den Willen anderer Einfluss zu nehmen. Um sie zu messen, wird ausgezählt, wer wie viele Menschen dazu bringen kann, ihr Kreuz an eine bestimmte Stelle zu machen. Das Verfahren ist human und volksfreundlich, verglichen etwa mit einem Bürgerkrieg. Aber es macht die Frage nicht entbehrlich: Wer hat die Macht, die da gemessen wird?

An der Wiege der Bundesrepublik stand die Ablehnung des Faschismus und die Angst vor dem Kommunismus. Die Wenigen hatten Hitler ermöglicht, zumindest nicht verhindert; sie waren diskreditiert (wenn wir ehrlich sind: mehr durch den verlorenen Krieg als durch die Verbrechen). Der Machtapparat war zerbrochen. Niederhalten konnte man das Volk nicht mehr. Man musste ihm etwas bieten, wenn man die Grundlagen der Macht behalten wollte. Es hatte eine Alternative: Es hätte ja kommunistisch werden können, womit die Grundlagen der Macht nicht in seine, aber doch in andere Hände übergegangen wären. Und es wurde gebraucht: Als Arbeitskraft für den Wiederaufbau.

So entstand, was man heute den rheinischen Kapitalismus nennt. Die alten Eliten blieben, nur notdürftig gesäubert. (Schaut man auf die Ergebnisse von 40 Jahren DDR, so war das wahrscheinlich das kleinere Übel.) Fabrikanten blieben Fabrikanten, Vermieter blieben Vermieter, Professoren blieben Professoren, Bischöfe blieben Bischöfe. Aber sie hatten vor dem Volk einen heilsamen Respekt. Daher räumten sie seinen Interessen einen hohen Rang ein.

“Wohlstand für alle” war die Parole und weithin auch die Realität; der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen war relativ hoch. “Maßhalten” hieß es nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Preise und Gewinne. Jahrzehntelang galten zwei Prozent vom Umsatz als auskömmlicher Gewinn; heute hat die Chemie vier Prozent, und sie beklagt sich, weil es in Amerika sieben Prozent seien (Stuttgarter Zeitung vom 01. 12. 1998, S. 12, “Chemie schraubt Erwartungen zurück”). Vollbeschäftigung wurde rasch erreicht und beibehalten, auch als der Wiederaufbau lange vorbei war, obwohl sie das Personal anspruchsvoll und aufsässig machte; der Arbeitgeber war ja ersetzbar. Bildung für alle kam später dazu.

Noch nie war das Volk so schwach

Etwa seit Mitte der 70er Jahre beobachten wir einen Umschwung. Das kommunistische Schreckgespenst verliert allmählich an Wirkung. Es wird klar, dass die Rote Armee bleibt, wo sie ist, und dass das Volk hierzulande sich nicht erhebt, noch nicht einmal kommunistisch wählt. Der Fortschritt der Technik und die Annäherung an die Grenzen des Wachstums verringern den Hunger nach Arbeitskräften. Die Herrschenden sitzen wieder fest im Sattel. Und die Unverschämtheiten der 68er verlangen eine Antwort. Der Regierungswechsel 1982 ist Folge dieser Verschiebung in den Machtverhältnissen, beschleunigt sie aber auch. Der Zusammenbruch des Moskowiterreiches und die Globalisierung bringen weitere Schübe. Ablesbar ist der Umschwung an der Verteilung des Volkseinkommens. Das Schlagwort “Umverteilung von unten nach oben” hat ja eine solide statistische Grundlage.

Der erste Hebel für den Umschwung war das Berufsverbot. Die SPD hat damit sicher ein gigantisches Eigentor geschossen. Wenige waren seine Opfer (schlimm genug), viele waren eingeschüchtert. Schülerinnen einer Schule für Kindergärtnerinnen haben mich damals gebeten, für sie die Anmeldung eines Info-Standes zu unterschreiben, an dem sie für eine Verbesserung der Bedingungen in den Kindergärten eintreten wollten; sie selber trauten sich nicht mehr.

Viel stärker wirkte der Umschwung am Arbeitsmarkt. Jetzt ist nicht mehr der Arbeitgeber ersetzbar, sondern der Arbeitnehmer. Da wird wieder pariert und funktioniert, malocht und sich beschieden. Sollen sie froh sein, dass sie Arbeit haben! Schluss mit räsonieren, Schluss mit Aufmüpfigkeit! Wem es nicht passt, der kann ja gehen. Wie schön für die Herrschenden, die ja immer irgendwo auch Arbeitgeber sind. Die Wirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Beschäftigten wiegen in meinen Augen schwerer als die auf die Arbeitslosen. Der glückliche Arbeitslose, den manche postulieren, ist aber auch sehr selten.

Die Beschäftigungskrise ist die bestprognostizierte Krise aller Zeiten. Ihre Ursachen sind offenkundig. Der technische Fortschritt lässt die Produktionsmöglichkeiten fortwährend wachsen, aber weder der Bedarf noch die natürlichen Ressourcen wachsen mit. Neuen Bedarf zu wecken, wird immer schwieriger; die Leute haben ja schon alles. Jeder kennt wohl das Problem, ein Geburtstagsgeschenk für eine nicht junge und nicht arme Person zu finden. Und immer mehr Randbedingungen sind zu beachten (“Umweltschutz”) und hemmen das Wachstum. Außerdem ist für die Unternehmer der Zugang zu den Arbeitskräftereserven der Welt, von Tschechien bis Bangla Desh, frei geworden (“Globalisierung”).

Trotzdem fehlt es nicht an Arbeit. Im Gegenteil: Wer Arbeit hat, hat meist mehr als genug davon. Es wäre in seinem Interesse, sich von den Arbeitslosen helfen zu lassen. Er müsste sie dann allerdings auch am Ertrag teilhaben lassen; aber das muss er über die Sozialkassen sowieso. Nicht die Nächstenliebe, sondern das Eigeninteresse gebietet Solidarität von Beschäftigten und Arbeitslosen. Geboten ist die gleichmäßigere Verteilung der vorhandenen Arbeit. Das ist ein organisatorisches Problem; gewiss kein einfaches, aber ein lösbares. Kleinere Nachbarländer, wie Dänemark und die Niederlande, machen uns da einiges vor. Wenn trotzdem nichts Wirksames geschehen ist, so wirft das ein Licht auf die Interessen- und Machtlage.

Ein starker Faktor der Machtverschiebung ist die Veränderung der Medienlandschaft. Jeder Mensch hängt von dem ab, der ihn informiert; das gilt nicht nur für das Volk, sondern auch z.B. für Aufsichtsräte. Nachdem außer den Druckmedien auch die Funkmedien zum großen Teil in private Hände gefallen sind, wer soll da noch ein Interesse haben, das Volk über Zusammenhänge zu unterrichten, wenn das nicht im Interesse der Wenigen ist? Wer informiert, sollte an Information interessiert sein und nicht an Profit und Machterhalt. In diese Richtung wiesen Gedanken, die früher unter dem Stichwort “Innere Pressefreiheit” liefen. Es passt ins Bild, dass dieses Thema aus der Diskussion verschwunden ist.

Der Zusammenbruch des sogenannten sozialistischen Lagers tat das Seine zur Verschiebung der Machtverhältnisse bei uns. Sicher war dieses Lager nicht sozialistisch; auch dort kam die Macht aus der Verfügung über die Produktionsmittel, die Information und den Apparat, nur verfügte eben die Partei. Das Resultat war bürokratischer Staatskapitalismus. Der Markt funktioniert weniger schlecht als die Bürokratie (insoweit haben die Apologeten unseres Systems recht). Daher war das östliche System auf Dauer nicht wettbewerbsfähig. Wir weinen ihm keine Träne nach. Aber es war eine Alternative, ein Konkurrent um die Gunst des Volkes. Seine Existenz trug dazu bei, die Wenigen im Zaum zu halten.

Die Ergebnisse dieser Entwicklungen widersprechen den Interessen des Volkes: Die Einkommensunterschiede sind so groß wie noch nie seit der Währungsreform; die Reichen werden reicher und zahlreicher, die Armen werden ärmer und mehr. Die Steuerlast liegt fast allein auf den Arbeitseinkommen und dem Massenverbrauch. Die Arbeitslosigkeit ist und bleibt hoch. Die Medienlandschaft ist verkommen, vor allem in den Teilen, die breite Schichten erreichen; das Fernsehen ist mehr Desinformation als sonst etwas. Und der Staat baut die Rechte des Volkes ab, statt sie zu schützen. Noch nie war das Volk so schwach.


Quellen der Macht – wer sind die Herrschenden?

Überwiegend setzen sich nicht die Interessen des Volkes durch, sondern die der Wenigen. Aber wie geht das vor sich? Wer sind die Herrschenden? Und mit welchen Mitteln setzen sie ihre Interessen durch? Schon zu Zeiten der Außerparlamentarischen Opposition haben diese Fragen viel Kopfzerbrechen bereitet, ohne eine wirkliche Antwort zu finden.

Nie habe ich einen Menschen getroffen, der sich selbst zu den Herrschenden gerechnet hätte. Und ich habe auch von keinem gehört. Sie herrschen zwar, aber es scheint sie nicht zu geben. Die Herrschaft ist anonym. Oft wird sie “der Markt” genannt. Aber das ist nur ein Wort. Der Markt ist ein Steuerungsinstrument, also ein Diener, kein Herr. Wem dient er?

Diese Herrschaft ist sehr wirksam. Fast ein jeder redet davon, was er muss; wenige davon, was sie wollen. Man stelle sich eine Umfrage vor mit der Fragestellung: “Leben Sie mehr so, wie Sie müssen, oder mehr so, wie Sie wollen?” Wenn meine Beobachtungen typisch sind, würde eine sehr große Mehrheit für “müssen” herauskommen.

Es ist keine Gewaltherrschaft. Zwar leben wir nicht in einer gewaltfreien Gesellschaft (die es wohl auch nicht geben wird, solange Menschen Menschen sind); aber Gewalt wird nur sparsam eingesetzt, sie steht mehr in Reserve. Gewalt ist ein plumpes Mittel; sie diskreditiert die, die sie einsetzen. Es gibt Besseres.

Die Parteien und ihre PolitikerInnen sind stimmengeil. Sie wollen gewählt werden; für Stimmen tun sie fast alles. Der Wähler und die Wählerin können nicht behaupten, dass sie nicht umworben werden. Sie hätten mit ihrer Stimme ein mächtiges Instrument in der Hand. Warum bewirken sie damit so wenig?

Den PolitikerInnen die Schuld zu geben, ist ein beliebtes Spiel. Unfähig seien sie und korrupt, meinen viele. Warum hat man sie dann gewählt? Wenn die bisherigen Parteien nichts taugen, kann man ja eine neue gründen. Die Grünen haben bewiesen, dass das geht. Allerdings muss schon etwas mehr dahinter stehen als ein Stammtisch. Neue Parteien gibt es in genügender Zahl. Die ehrlichen, anständigen und tüchtigen Kritiker könnten sich dort sammeln, sie tun es aber nicht. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Jedes Volk hat die PolitikerInnen, die es verdient.

Das ist natürlich nicht moralisch gemeint. Aber Wählerin und Wähler müssen sich schon an die eigene Nase fassen, wenn sie wissen wollen, warum ihnen geschieht, was ihnen geschieht. In ihrem eigenen Verhalten liegt die Erklärung. Die Bestimmungsgründe dieses Verhaltens gilt es zu untersuchen. Warum haben die Leute 16 Jahre lang CDU gewählt? Die meisten haben sich damit ja keinen Dienst getan.

Wo empfängt der Mensch seine stärksten Eindrücke, wo wird sein Verhalten geprägt? Ich behaupte: Dort, wo er am meisten gefordert wird, wo er sich anstrengt, also im Berufsleben. Was lernt er dort? Pünktlichkeit und Ordnung; eine fremdbestimmte Pünktlichkeit und eine hierarchische Ordnung. Solidarität und Kritikfähigkeit jedenfalls nicht.

Ehe der Mensch ins Berufsleben eintritt, durchläuft er Familie und Schule. Beide brauchen wir hier nur am Rand zu erwähnen. In der Hauptsache reproduzieren sie die Prägungen, die Eltern und Lehrer vorher selbst von der Gesellschaft erfahren haben. Die Schule ist nicht das Instrument zur Veränderung der Gesellschaft, als das sie eine Zeit lang galt.

Beruflich vorankommen will fast jeder; oder zumindest seine Position halten. Die wenigen, die die Laufbahn als Clochard vorziehen, zählen nicht. Wer die Kriterien für beruflichen Aufstieg bestimmt, hat viel Macht. Er setzt die Ziele für die Selbsterziehung der anderen. Und Selbsterziehung ist die wirksamste Erziehung. Wer beruflich aufsteigen will, muss nicht nur ehrlich, fleißig und tüchtig sein, sondern er muss vor allem diese Eigenschaften in den Dienst fremder Interessen stellen. Er sollte möglichst glauben, was sein Vorgesetzter sagt. Kritik und Widerspruch sind meist nicht förderlich. Die sogenannte Leistung ist hauptsächlich Anpassung an die Interessen derer, auf deren Rechnung der Betrieb geführt wird.

So ist die Wirtschaft eine große Schule der Unterordnung unter und der Anpassung an fremde Interessen. Mit Recht haben Gewerkschafter gelegentlich Schilder vor das Werkstor gestellt: Sie verlassen den demokratischen Sektor der Republik. Was man können muss, um seine eigenen Interessen wirksam wahrzunehmen, lernt man am Arbeitsplatz nicht. Dass bei dieser permanenten Einübung vordemokratischer Verhaltensweisen unsere Demokratie überhaupt funktioniert, ist erstaunlicher als ihre Mängel.

Immerhin: Wir haben ein demokratisch gewähltes Parlament, eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Regierung. Nur Pech, dass deren Aktionsspielraum sich zusehends verringert. Auf nationaler Ebene lässt sich im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr viel bewirken. Wer das Kapital, dieses scheue Reh, nicht hegt und pflegt, den verlässt es eben, und dann kann er sehen, wo er bleibt. Die Stimmen ist er bei der nächsten Wahl dann auch los, denn natürlich wird er für die Folgen verantwortlich gemacht. Mehr und mehr wird die Wirtschaft zur Herrin, die die Politik in ihren Dienst nimmt. Demokratisch wäre das Umgekehrte.

Aber dient der Markt nicht dem Verbraucher? Und sind wir das nicht alle? Kann das Volk seine Interessen nicht am Markt durchsetzen, mit der D-Mark als Stimmzettel des Alltags? Zur Zeit von Adam Smith ließ sich diese Theorie hören, obgleich schon damals auffallen musste, dass diese Stimmen höchst ungleich verteilt sind.

Heute ist der Kunde König, und er hat die gleichen Probleme wie Könige zu allen Zeiten. Er wird hofiert, wo er es merkt, und beschissen, wo er es nicht merkt. Er hat Schwierigkeiten, die Wahrheit zu erfahren. Seine “Diener”, die Unternehmer, geben mehrere Dutzend Milliarden jährlich für Werbung aus, um Seiner Majestät beizubringen, was sie zu wollen hat. Ein Großteil der kreativen Intelligenz des Landes wird für diesen Zweck vergeudet.

Jeder hat ein Interesse, gesund zu bleiben und in gesunder Umwelt zu leben. Aber dieses Interesse hat nur eine schwache Stimme, weil niemand daran verdient. Gewaltig dröhnen dagegen die Werbeposaunen für Gesundheitsschädliches, wie die legalen Drogen Alkohol und Tabak, und für Umweltschädliches, wie Flugreisen und schnelle Autos. Schon das genügt, um zu zeigen, welches Interesse hier herrscht. Oft wissen wir nicht einmal mehr, was wir essen und anziehen. Die, die es uns verkaufen, wissen es im Grund selbst nicht. Ein Drittel der Menschen leidet inzwischen unter Allergien, aber niemand weiß, wo sie herkommen. Ohne zu behaupten, dass ich es weiß, ziehe ich den Schluss: Mit unserer Lebensweise stimmt etwas nicht.

Die überbordende Werbeflut hat eine weitere fatale Folge: Sie verstopft die Informationsaufnahmekanäle der Menschen. Man lernt wegsehen, weghören, abschalten. Wir werden geistig immer kurzatmiger. Wenn vor 25 Jahren ein Textspot in eine Musiksendung eingeblendet werden sollte, sagte der Reporter: Höchstens drei Minuten. Das war auch schon sehr kurz, aber heute sagt er: Höchstens 45 Sekunden. Wer jemals versucht hat, etwa im Wahlkampf, seinen Mitmenschen etwas Politisches zu sagen, hat die Probleme erlebt. Ohne Kommunikation kann Demokratie nicht erfolgreich sein.

Die Werbung finanziert die Medien. Zeitungen und Zeitschriften decken ihre Kosten zu gut zwei Dritteln aus Anzeigenerlösen. Wirtschaftlich gesehen sind sie nicht Informationsträger, sondern Werbeträger. Meldungen, die den Interessen der Werbekunden zuwiderlaufen, sind inopportun. Die Werbekunden sind am Konsum interessiert, nicht am Sparen. Die Sparquote ist denn auch so niedrig wie noch nie, wie die Bundesbank jüngst bekümmert festgestellt hat. Zufall?

Früher war der öffentlich-rechtliche Rundfunk von diesen Zwängen frei und konnte ein Gegengewicht bilden, weshalb er denn auch als “Rotfunk” bei den Mächtigen in Verruf geriet. Zugegeben: auch früher war er nicht das Gelbe vom Ei, vor allem das Fernsehen, weil es systembedingt den Zuschauer in eine völlig passive Rolle drängt. Heute hat man ihn durch den Druck der privaten Konkurrenz kirre gemacht. Allein die Quote regiert. Sendungen, die auch nur die geringsten Ansprüche stellen, lassen sich schlecht an die werbegeschädigten Leute bringen.

Wirtschaftliche Macht, Werbemacht, Medienmacht: Das sind die Hauptquellen der Macht in diesem unserem Land. Ich widerstehe der Versuchung, sie als Säulen zu bezeichnen, denn das Bild stimmt nicht; sie stehen nicht getrennt nebeneinander, sondern sind eng verflochten. Einige Nebenquellen lasse ich beiseite. Der demokratische Staat ist das Sahnehäubchen auf dem Kompott und macht es weniger ungenießbar. Das Häubchen wird aber immer kleiner.

Ich glaube nicht, dass Adam Smith (den ich nach wie vor für einen großen Gelehrten halte) sich das so vorgestellt hat. Was er wohl heute sagen würde? Vielleicht würde er einem anderen großen Gelehrten zustimmen, der beobachtete und prophezeite, dass sich die Kapitalisten gegenseitig auffressen. Beobachten wir das nicht mehr denn je, nachdem (und zum Teil: weil) das östliche Imperium falliert hat? Marx zog den Schluss, wir würden am Ende nur noch einen oder wenige enteignen müssen.

Ich mag nichts prophezeien, aber ich will auch einen Schluss ziehen: Wenn das Volk Herr im Lande bleiben oder wieder werden will, wird es die Machtfrage stellen müssen.

Der jüngste Regierungswechsel [gemeint ist hier die Rot-Grüne Koalition ab 1998] in Bonn/Berlin ist sicher zu begrüßen. Er verdankt sich aber zum großen Teil der Anpassung (um nicht zu sagen Anbiederung) der SPD an die Interessen der Wenigen. Der Mehrheitswechsel ist noch kein Machtwechsel. Was geschehen müsste, kann hier nur angedeutet werden. Ohne ein neues linkes Projekt (das heißt nicht: eine neue Partei) kann ich mir aber einen Machtwechsel schlecht vorstellen. Dabei darf man an die alte Schachspielerregel denken: Die Drohung ist stärker als die Durchführung. Schon der überzeugende Entwurf eines linken Projekts hätte seine Wirkung.

“Auf lange Sicht haben nicht die Reaktionäre, sondern hat das Volk eine große Macht.” Sagt der Große Vorsitzende Mao. Hoffentlich behält er recht.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.