von Paula Andrea Lainez Soto (Übersetzung: Bettina Reis)
Kolumbien: Erfahrungen einer ambulanten Pflegekraft in Medellín
Die Corona-Pandemie hat den Blick dafür geschärft, dass die Arbeit des Gesundheits- und Pflegepersonals für unsere Gesellschaften überlebenswichtig ist. Diesen Sorgearbeiter*innen wurde viel applaudiert, manchmal eine kleine Prämie zugestanden und für irgendwann später eine bessere Bezahlung versprochen. Zwischen der moralischen und der materiellen Anerkennung ihrer Arbeit liegen meist Welten. 156 Jahre müsste eine Pflegekraft arbeiten, um das Jahresgehalt eines DAX-Managers zu verdienen, hat Oxfam kürzlich errechnet. In Kolumbien ist die Situation des medizinischen und des Pflegepersonals sicherlich noch schlechter als bei uns. Unsere Autorin beschreibt ihre ernüchternden Arbeitserfahrungen bei einem Pflegedienst in Medellín.
Ich beginne, meine Haare durchzukämmen und meine wirren Locken zusammenzubinden. Das ist Vorschrift bei meiner Arbeit, kein einzelnes Haar darf mehr hervorlugen. Ich ziehe meine weiße Uniform an und denke daran, dass ich mit einem Teil meines ersten Gehalts die Schulden zurückzahlen muss, die ich für den Kauf dieser Arbeitskleidung aufgenommen habe. Das war, bevor ich anfing, als Schwesternhelferin bei einem ambulanten Pflegedienst in Medellín zu arbeiten.
Während ich die Straße entlanggehe, sage ich mir immer wieder: Es ist die Mühe wert, ich werde endlich den Kredit für die Uni abzahlen und meiner Familie finanziell unter die Arme greifen können. Diese Gedanken beflügeln mich und verscheuchen meine Angst, mich mit Covid-19 anzustecken und das Virus nach Hause zu tragen. Ich versuche, überaus vorsichtig zu sein. Aber es ärgert mich, dass mir der Pflegedienst keine Schutz- und Hygienemittel zur Verfügung stellt. Es ist klar, dass die Patientinnen, die ich versorgen soll, sehr anfällig sind.
Ich komme zu meiner Metrostation, ziehe meine Sammelfahrkarte heraus und kontrolliere, wie viele Fahrten noch übrig sind. Ich denke wieder an mein Gehalt, diesmal daran, dass sie mir das Geld für die Fahrtkosten nur vorgestreckt haben. In meiner linken Hand halte ich meine Schwesternhaube, sie ist in einem Beutel verstaut, damit sie nicht beschädigt oder verschmutzt wird. Mit der rechten Hand halte ich mich fest. Mehrmals desinfiziere ich mich mit Alkohol.
6 Euro für 8-Stunden-Schicht
Die Leute schauen mich erstaunt an, vermutlich denken sie, dass ich ein gutes Gehalt beziehe. Sie können nicht wissen, dass ich für zwölf Stunden Arbeit nur 57000 Pesos, das wären aktuell 13,42 Euro – bekomme, oder neun Euro für acht Stunden (1). Auch nicht, dass ich einen Dienstleistungsvertrag habe, mir von meinem Gehalt monatlich 85 Euro für die Krankenkasse abgezogen werden und ich die Beiträge für Rente und Arbeitslosigkeit selbst tragen muss.
Heute werde ich für eine Acht-Stunden-Schicht nur sechs Euro bekommen, laut meiner Firma gilt das für die Einarbeitungszeit. Gestern habe ich sogar zwölf Stunden für diese Summe gearbeitet. Ich weiß, dass es illegal und missbräuchlich ist, wie mich der Pflegedienst behandelt, aber ich brauche das Geld. Ich stehe kurz vor meinem Uniabschluss und will meiner Familie helfen, die Windeln für meinen Opa und unser Essen zu bezahlen.
Ich komme zur angegebenen Adresse und merke, dass es ein sehr schönes Haus ist, vermutlich geht es den Leuten gut. Eine Frau öffnet mir die Türe, ebenfalls in Uniform, ihre ist dunkelblau. Sie ist wohl die Hausangestellte. Ich grüße sie höflich. Dass wir beide einen Service leisten, weckt meine Empathie für sie. Sie fordert mich zum Eintreten auf und desinfiziert mich von Kopf bis Fuß.
Ich gehe die Treppe zum Zimmer der Patientin hinauf. Dort treffe ich auf eine bettlägerige Frau, ihren Kopf stützt sie auf die Hand. Sie begrüßt mich und zeigt mir, wo ich meine Sachen hinlegen soll. Wieder muss ich mir die Hände waschen. Ich beginne mit meinen Arbeiten für die Patientin, die unter anderem sind, sie zu dem von ihr gewünschten Ort innerhalb des Hauses tragen, sie zur Toilette bringen, ihr beim Duschen und Ankleiden helfen und ihr die Medikamente verabreichen. Eine Stunde soll ich Physiotherapie und mehrmals täglich Atemübungen mit ihr machen. Ihr Zimmer muss ich penibel sauber halten. Ich muss ihr helfen, den Kopf hochzuhalten, da sie unter Muskelversagen leidet. Ebenfalls muss ich für den Fall gewappnet sein, dass sie sich verschluckt.
Der Tag schreitet voran, meine Beine und Hände fühlen sich schon schwer an, das kommt vom Gewicht der Patientin. Es ist sehr angenehm, mit ihr zu arbeiten, aber es ist auch ermüdend.
19 Euro mehr?
Doña Claudia erzählt mir, dass die Kollegin, die auch bei ihr arbeitet, gekündigt hat. Das beunruhigt mich, denn der nächste Tag ist ein Feiertag, und es ist mein freier Tag. Sicherlich wird mich der Pflegedienst kontaktieren, um die Schicht zu übernehmen. Es käme mir ja sogar gelegen, denn das Arbeiten an meinem Ruhetag müsste als „Sondertag“ bezahlt werden, ich hätte 19 Euro mehr in der Tasche.
Wie ich es mir bereits gedacht habe, schreibt mich der Pflegedienst an, um die Schicht zu übernehmen. Meine Frage zurück: „Falls ja, wird mir das als ‘Sondertag’ bezahlt?“ Die Antwort der Dame vom Pflegedienst: „Nein, wir verschieben lediglich deinen Ruhetag.“ Und ironisch wird mir erklärt: „Als ‘Sondertag’ wird dir bezahlt, wenn du zuzüglich zu den 20 Schichten im Monat eine weitere übernimmst.“ Das zu hören empört mich, am Einführungstag haben sie mir das anders gesagt. Ich drücke mein Missfallen aus und schreibe per WhatsApp, dass ich die Schicht nicht übernehmen werde. Die Antwort kommt prompt: „Du kannst nicht einfach den Dienst verweigern, du musst dich der Firma und der Patientin gegenüber erkenntlich zeigen!“ Nach einer langen Diskussion mittels Audionachrichten bin ich weiterhin fest entschlossen, die Schicht an meinem Ruhetag nicht zu übernehmen. Mir ist außerdem eingefallen, dass eine andere Kollegin auch zwei Wochen durchgearbeitet hat und ihre Ruhetage verschoben wurden, nur um ihr nicht den höheren Tarif zu zahlen.
Doña Claudia bemerkt meinen Ärger. Sie unterstützt meine Entscheidung, obwohl ihr klar ist, dass sie ihr am nächsten Tag keinen Ersatz schicken werden und dass der Wechsel von Pflegekräften für sie von Nachteil ist, denn jede neue Kraft muss sich neu einarbeiten. Aber sie sagt mir, dass sie keinen weiteren Missbrauch des Pflegedienstes gegenüber uns Krankenschwestern billigen wird.
Erschöpfte Gesichter
Ich beende meine Schicht und gehe zur Metrostation, um nach Hause zu fahren. Meine Füße fühlen sich schwer und geschwollen an, die Zeit wird mir lang. In der Metro beobachte ich die Menschen um mich herum, sehe ihre erschöpften Gesichter nach einem erschöpfenden Arbeitstag. Mich überkommt die Müdigkeit, die Augen fallen mir zu. Irgendwann höre ich: „Nächste Station Acevedo.“
Ich steige aus, stecke meine Hände in die Taschen und sage mir: „Uff, ich muss sparen, mit dieser Müdigkeit komme ich nicht jeden Tag die neun Hügel zu Fuß zu uns hoch!“ Auf dem Weg frage ich mich voller Wut, Entrüstung und mit dem Herzen in der Hand: Wie ist es möglich, dass diese Art von Pflegediensten immer so weiter machen können? Mit diesen Arbeitsbedingungen ruinieren sie nicht nur die Gesundheit von uns Pflegekräften, sie gefährden auch das Wohlergehen und die Genesung der Patient*innen.
Fast schon zuhause beschließe ich, die Sache ad acta zu legen. Mein Körper freut sich, endlich ausruhen zu können, und meine Tante empfängt mich mit einem Milchkaffee. Sie ist stolz darauf, mich mit meiner Schwesternuniform zu sehen. Sie glaubt, dass ich eine „Heldin“ bin.
Die Umrechnungen im Text entsprechen dem Wechselkurs vom 18.02.2021: 1 Euro = 4247 kolumbianische Pesos (COP). – Der monatliche Mindestlohn in Kolumbien lag 2020 bei 207 Euro. Der Beitrag von Paula Andrea Lainez Soto wurde am 13. Februar 2021 auf der Website von „El Colectivo. Periodismo para la Utopía“ veröffentlicht. An dieser Stelle ist er übernommen aus ila 443 März 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
Übersetzung: Bettina Reis
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