In der Bundestagsfraktion der Union flogen kürzlich beim Thema Pandemie die Fetzen. Abgeordnete haben sich lauthals über die miserablen Leistungen jener Parteifreunde empört, die gerade die Bundesregierung und etliche Landesregierungen bilden. Erzürnt zeigen sich auch die Abgeordneten der Opposition. Wäre die Lage nicht so ernst, müsste man über die Mandatsträger lachen und sich wünschen, Gorbatschow würde wie einst Honecker heute die Unionsfraktion besuchen.

Nur mit Impfstoff zu bezwingen

Die Empörung der Abgeordneten entzündete sich an den Plänen der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin, die Republik über Ostern erneut dichtzumachen. Das sei in den Wahlkreisen nicht mehr zu vermitteln, zogen die Unionsabgeordneten vom Leder. Wer in den Wahlkreisen lässt sich Politik von Abgeordneten vermitteln?

Seit Beginn der Pandemie weiß doch jeder: Sie ist nur mit Impfstoff und Impftests zu bezwingen. Den Abgeordneten schien das nicht klar zu sein. Im Frühsommer 2020 ging der frühere US-Präsident Trump auf der Suche nach Impfstoff auch in Deutschland auf Einkaufstour. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war sicher: Es würde einen Konkurrenzkampf um Impfstoff geben. Den Abgeordneten schien das nicht klar zu sein.

Nicht hingeschaut

In Deutschland jedenfalls hatte es diese Einsicht schwer, Fuß zu fassen. Sie löste bei den Regierungschefs, den Bundes- und Landtagsabgeordneten und den Medien keine nachhaltige Reaktion aus. Sie freuten sich, dass in Deutschland findige Köpfe mit Aussicht auf Erfolg Impfstoff entwickelten, und beschäftigten sich vorwiegend mit den wichtigen Fragen, wer CDU-Chef und wer Kanzlerkandidat werden könnte.

Ein Aufstand der Abgeordneten wäre im Sommer und Herbst 2020 notwendig gewesen. Die EU bekam damals den Kauf von Impfstoff nicht in den Griff. Die 17 deutschen Regierungschefs, die 709 Bundestags- und die 1879 Landtagsabgeordneten schauten nicht hin. Die damaligen Opferzahlen reichten zur Empörung nicht hin.

Zum finanziellen Risiko mutiert

Der Aufstand brach erst jetzt aus, ein dreiviertel Jahr später. Er entzündete sich, weil die Bürger von der Schlamperei der EU, der Regierungen und der Abgeordneten die Nase voll hatten und die Union mit miserablen Umfragewerten abstrafte. Sie ist in kurzer Zeit von 39 auf 27 Punkte gefallen.

Lange hatten viele Unionsabgeordnete in Bund und Land sogar geglaubt, sie könnten bei Wahlen von Erfolgen gegen die Pandemie profitieren. Plötzlich finden sich die Abgeordneten auf dem Niveau des schlichten Bürgers wieder. Wie schon für Millionen anderer Menschen war die Pandemie nun auch für Mandatsträger von einem gesundheitlichen zu einem finanziellen Risiko mutiert.
Der Verantwortung nicht gerecht geworden
Vielen Unionsabgeordneten, die 2017 mit knapper Mehrheit in den Bundestag einzogen waren, stellt sich heute, ein halbes Jahr vor der nächsten Wahl, unerwartet die Existenzfrage. Verbessern sich die Umfragewerte nicht, werden etliche Abgeordnete im Herbst nicht mehr in den Bundestag zurückkehren. Mancher schaut sich wohl schon jetzt nach einem anderen Job um.

Das Mitleid mit ihrem Schicksal wird sich in Grenzen halten. Ob sie in den Regierungs- oder in den Oppositionsfraktionen sitzen: Längst hat sich der Eindruck breitgemacht, dass gemessen an den Erfordernissen kaum ein Abgeordneter 2020 seiner Verantwortung hinreichend gerecht geworden ist.
Über die Verhandlungen kaum berichtet
Wo waren jene Abgeordneten (und Journalisten), die sich heute über den Mangel an Impfstoff, zu wenige Impftests und unzureichende Öffnungskonzepte erregen, im vergangenen Sommer, als es darum ging, Impfstoff und Impftests zu beschaffen?

Die Abgeordneten, die heute auf die Palme steigen, hätten nach dem ersten Lockdown die Regierungen in Bund und Ländern verpflichten müssen, regelmäßig über den Fortschritt der Impfforschung, der Kaufverhandlungen und der Impfstoffproduktion zu berichten.

Über Monate kein Thema

Statt den Regierungschefs auf die Füße zu treten und der EU auf die Finger zu schauen, gaben sich die Abgeordneten damit zufrieden, dass die EU den Impfstoff schon besorgen werde.

Wie es um die Kaufbemühungen der EU und um die Impfstoffkonkurrenz bei der Produktion bestellt war, ließen die Abgeordneten lange im Dunkeln. Dort konnte die Pfuscherei der EU sehr gut gedeihen.
Käufe knauserig verweigert
Die Abgeordneten erzwangen nicht, dass die Kaufbemühungen der EU diskutiert wurden. Es wurde die Chance vertan, bei den Verhandlungen mit den Unternehmen auf das Tempo zu drücken und die Bremser auszubremsen.

Erst im Nachhinein wurde bekannt, dass Impfstoffangebote kurzsichtig und leichtfertig ausgeschlagen wurden, dass Frankreich ein Unternehmen protegierte, das später nicht liefern konnte, und dass sich osteuropäische Staaten knauserig weigerten, Impfstoffe zu kaufen, die ihnen zu teuer erschienen.

An Fahrt verloren

Selbst in einem Übel wie der Pandemie findet sich noch etwas Gutes. Sie legt die Schwächen der EU, der Mitgliedsstaaten, ihrer Regierungen und Parlamente frei. Verwaltungen und politische Gremien sind durch bürokratische und ideologische Verhärtungen gelähmt. Es ist nun leichter nachzuvollziehen, warum Boris Johnson in Großbritannien so viel Resonanz fand, als er dazu aufrief, das schwankende Schiff EU zu verlassen.

Es verliert von Jahr zu Jahr an Fahrt. Es hat nicht die Kraft, seine Passagiere sorgsam zu schützen. Die Mannschaft arbeitet nicht mit-, sondern gegeneinander. Sie ist uneins über den Kurs. Das Schiff droht sich zwischen China, den USA und Russland festzufahren. Um zu verhindern, dass es leck schlägt, erfordert die Pandemie, Lehren aus ihr zu ziehen. Doch wer soll diese Aufgabe meistern?

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.