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Stolze 70

Das Bundesverfassungsgericht hat Geburtstag

Ein Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird 70 Jahre alt. Am 12. März 1951 wurde das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht beschlossen, am 17. April 1951 trat es in Kraft. Glückwunsch und weiter so!

Das Bundesverfassungsgericht hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland international als vorbildlicher Rechtsstaat anerkannt ist. 1957 schuf es die Grundlage seiner Arbeit: Seitdem kann jede Bürgerin und jeder Bürger eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Dieses Recht wurde genutzt: Bis Ende 2020 wurden dem Gericht rund 250.000 Beschwerden unterbreitet.

Markante Gerichtsentscheidungen prägten unsere Gesellschaft: Zum Beispiel 1959 die Gleichberechtigung der Eltern bei der Kindeserziehung. 1983 das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Volkszählungsurteil). 1995 das Verbot von Kruzifixen in öffentlichen Schulen. 2001/2002 die Verfassungskonformität des Lebenspartnerschaftsgesetzes. 2006 die Einschränkung der präventiven Rasterfahndung. 2010 die Vorgabe realitätsgerechter Sozialleistungen als Existenzminimum, 2019 das ‘Recht auf Vergessenwerden’ im Internet. 2010 die Zurechtstutzung der Vorratsdatenspeicherung.

Unter den Gegnern der Berufsverbotepraxis in den Siebziger Jahren kursierte der Spruch, dass die wahren Verfassungsgegner in den Parlamenten säßen. Gerade diese würden immer wieder die Verfassung ändern und Gesetze beschließen, die verfassungswidrig seien. In der Tat hat es bis heute 60 Grundgesetzänderungen gegeben, in der Regel jedoch konstruktiver Natur, aber auch Negativbeispiele wie die Notstandsgesetze oder die Einschränkung des Asylrechts. Bis Ende 2019 hat das Verfassungsgericht 660 Gesetze ganz oder teilweise für nichtig oder für unvereinbar mit der Verfassung erklärt. 1)

70 Jahre lang hat das Bundesverfassungsgericht erfolgreich seine Rolle als Wahrer unserer Grundrechte erfolgreich wahrgenommen und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Ansehen und Wirkung verschafft. Selbst Richter, denen aufgrund ihrer parteipolitischen Vergangenheit Skepsis entgegengebracht wurde, haben sich als Hüter der Verfassung bewiesen.

Man wagt sich kaum vorzustellen, wie unser Rechtssystem aussähe, wenn es diese Instanz nicht gäbe. Das Gericht hat dafür gesorgt, dass die Politik dem Recht folgt und nicht das Recht der Politik. Anderer Ansicht ist offenbar Wolfgang Schäuble: Auf den Hinweis, dass ein von ihm geplantes Sicherheitsgesetz nicht verfassungskonform sei, antwortete er sinngemäß: Im Notfall ändern wir eben die Verfassung. 2)

Anmerkungen:

1) de.statista.com: Anzahl der vom BVerfG für nichtig oder verfassungswidrig erklärten Bundesgesetze von 1949 bis 2013 und bundestag.de: Für nichtig oder verfassungswidrig erklärte Bundesgesetze. Stand Juni 2019
2) Deutschlandfunk Kultur, Interview mit Sabine Leutheuser-Schnarrenberger vom 5.4.2007

Dieser Beitrag wurde vor dem Urteil zum Berliner “Mietdeckel” verfasst.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

Ein Kommentar

  1. Roland Appel

    Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts war wichtig für die Demokratie – keine Frage. Außer den genannten Beispielen wichtige Urteile wie das Lüth-Urteil, (https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCth-Urteil)
    das, vom ehemaligen Jungdemokraten der Weimarer Republik erstritten, die Meinungs- und Pressefreiheit entscheidend stärkte. Urteile zur Vorratsdatenspeicherung, des Großen Lauschangriffs und des Staatstrojaners sind sicher rechtstaatliche Meilensteine gewesen und natürlich das genannte Volkszählungsurteil. Aber die Aufzählung wäre unvollständig, wenn nicht die dunklen Seiten der Verfassungsgerichtssprechung erwähnt würden.

    1. So etwa das Urteil zur Einschränkung der Kriegsdienstverweigerung. Die jahrzehntelange Gewissensinquisition durch sogenannte “Prüfungsausschüsse” wurde von der sozialliberalen Koalition 1976 beendet und eine einfache Wahrnehmung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung wurde zunächst als “Postkartenlösung” vonder Union diffamiert und dann vom BVerfG aufgehoben. Eine “Gewissensprüfung light” war die Folge.
    2. Die Fristenlösung zum § 218, ebenfalls beschlossen von der sozialliberalen Koalition wurde, heftig bekämpft von klerikalen Kräften und konservativen Richtern außer Kraft gesetzt und in eine Indikationslösung umgewandelt. Frauen sollten einfach nicht selbst über ihren Körper und ihre Schwangerschaft entscheiden können. Erst die Wiedervereinigung nach 1990 sorgte letztendlich dafür, dass die Fristenlösung Rechtsalltag der neuen gemeinsamen Bundesrepublik wurde.
    3. Noch viel irritierender erscheint der jüngste Beschluss des BVerfG auf Antrag des AfD-Gründers Lucke und Genossen. die Ratifizierung des Gesetzes zum 750 Mrd. € Corona-Hilfsfonds – “EU-Aufbaufonds” der Europäischen Union durch Bundespräsident Steinmeier zu untersagen. Das BVerfG ist damit nicht nur einer reaktionär-nationalistischen Argumentation der Antragsteller gefolgt, sondern greift auch in zweifelhafter Weise in die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft ein, die zur Stabilisierung der durch die Pandemie gefährdeten Wirtschaft getroffen wurden. Die Verfassungsrichter wenden sich in diesem Verfahren direkt gegen die Europäische Union in einer Zeit und unter Bedingungen einer Pandemie, in der nationalistische Egoismen das politische Aus der EU und eine Destabilisierung des Europäischen Sicherheits- und Wirtschaftssystems bedeuten können.
    4. Das gestrige Urteil zur Nichtigkeit des Berliner Mietendeckels ist ein weiteres Beispiel, dass das BVerfG inseiner derzeitigen Zusammensetzung nicht die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Auge hat, sondern bereit ist, rein abstrakte auf Zuständigkeitsfragen beschränkte Formalentscheidungen zu treffen, die totz einer klar ersichtlichen sozialen Schieflage entschlossen ist, die Interessen der Eigner von Wohnkapital gegen die berechtigten Interessen von Mieterinnen und Mietern zu stärken und durchzusetzen. Dass sich die Folgen dieses Urteils mitten in der Pandemie in Berlin für die Betroffenen verheerend auswirken und mögöicherweise soziale Unruhen auskösen können, ist skandalös. In früheren Jahren nannte man so etwas Klassenjustiz. Es zeigt sich darin, dass die Wahl des CDU- Bundestagsabgeordneten Stephan Harbarth zum Präsidenten des BVerfG 2018 ein parteipolitischer Fehlgriff war, wie er leider in der Geschichte des hösten Verfassungsgerichts nicht nur einmal vorgekommen ist.

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