Es war der 1. April 1973. Ich wurde in die FDP aufgenommen. Warum trat ich ihr bei? Weder ihr Parteiprogramm noch ihre Führungsfiguren Scheel, Genscher, Mischnik waren für mich ein Grund. Es war eine Lehre der Bundestagswahl 1972. Über die Richtung der deutschen Politik entscheidet die politische Repräsentation des Bürgertums. Es war so bei der “verlorenen” bürgerlichen Revolution 1848, beim Eintritt in den 1. Weltkrieg, bei der “Ermächtigung” der Nazis. 1966-69 gehörte die FDP zur Opposition gegen die Notstandsgesetze. 1969 verbündete sie sich mit der SPD für die Entspannungspolitik. Und war danach heftigsten D-Mark-millionenschweren Angriffen der bürgerlichen Reaktion ausgesetzt. Als Genscher und Lambsdorff den Laden 1982 wieder nach rechts wendeten, zur “geistig-moralischen Wende” des Helmut Kohl, trat ich wieder aus. Das Instrument für den Fortschritt in Deutschland war unbrauchbar geworden.
Gewählt hatte ich die FDP während meiner Mitgliedschaft nur ein einziges Mal: bei der NRW-Landtagswahl 1980 mit dem Spitzenkandidaten Burkhard Hirsch. Ich habe das zwar nie bereut, aber es hat mich traumatisiert: das FDP-Wahlergebnis war 4,971 %, sie flog aus dem Landtag.
Zahlreiche politisch und gesellschaftlich marginalisierte Kräfte sammelten sich seinerzeit schon in den Grünen. Ihre Heterogenität schreckte mich zunächst ab. Ich glaubte nicht an ihre Politikfähigkeit. Im Volkszählungsboykott 1987 wuchs in mir allerdings die Hoffnung auf chancenreiche Einflussnahme – gesellschaftlich, und in dieser merkwürdigen Partei. 1990 ereilte mich eine erneute Traumatisierung: 1989 gerade den Grünen beigetreten, flogen sie 1990 prompt aus dem Bundestag. Ich brachte immer nur Unglück. Obwohl: zuvor bei der NRW-Landtagswahl 1990 errangen sie 5,0%, “400 Stimmen über dem Durst”, sagte der NRW-Landeswahlleiter damals im WDR. 12 Grüne zogen in den Landtag ein, auf Platz 12 mein zukünftiger Arbeitgeber Roland Appel.
Heute würde ich zusammenfassen, dass ich sowohl in meiner Hoffnung als auch in meiner Skepsis rechtbehalten habe.
Die deutsche Gesellschaft ist umgepflügt. Neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspraxis, Atomkatastrophen, drohende Klimakatastrophe, wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt, medientechnologisch nach den Prinzipien eines wilden Kapitalismus getriebene Disruptionen, nachhaltig erschwerte politische Bündelung divergierender und segmentierter Interessen.
Unter diesen erschwerten Voraussetzungen ist eine vorläufig linksliberal gewordene Grüne Partei – im internationalen Vergleich betrachtet – fast schon wieder ein grosses Geschenk, ein Fenster der Gelegenheit für all die Kräfte in Deutschland, die nicht zurück ins Gestern wollen. So scheint es eine wachsende Zahl der Wahlbürger*innen auch wahrzunehmen.
Nun kommt die Frage näher, wofür sich die Grünen wohl entscheiden werden. Für ein Morgen mit mehr Gerechtigkeit und Fortschritt? Oder für ein Bewahren von möglichst viel des Heute? Gestern gab es eine schöne Unterrichtsstunde der “Anstalt”/ZDF, was für ein schmilzender Grund das ist, ähnlich den auftauenden Permafrostböden, in denen bereits sibirische Häuser versinken oder einstürzen. Der Kampf darum wird heftiger werden als 1969-1982. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Coronakrise wurden nur durch Kriege übertroffen.
Die Grüne Parteiführung glaubt ihrem Ziel auf Samtpfoten näherkommen zu können. Schon vor der Wahl niemandem auf die Füsse treten. Kompromisse schon vor Beginn von Verhandlungen eingehen – eine alte Realo-Marotte: sich zum Sieg schwindeln, und was danach kommt ist egal, hauptsache “wir” sind dabei. Da hatte selbst die damalige FDP-Führung eine realistischere Analyse. Es ist der Unterschied zwischen den zahlreichen Träumer*inne*n, denen eine Partei eine “Heimat” ist, und den weniger zahlreichen (tatsächlichen) Realist*inn*en, für die eine Partei ein Instrument zur Bündelung und Durchsetzung von Interessen ist.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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