Auf Du mit dem máximo líder – Fidel Castro, Hugo Chávez – Diego Maradona hat immer wieder die Nähe zu linken Politikern gesucht. Aber: War er deshalb ein Linker? Maradona selbst hat sich stets als Peronist bezeichnet. Und: Was heißt das eigentlich?
Von Gert Eisenbürger
Vor kurzem ist im Verlag „Die Werkstatt“ (hrsg. von Hardy Grüne und Dietrich Schulze-Marmeling) das Buch „D10S. Maradona – Ein Leben zwischen Himmel und Hölle“ erschienen. Der Titel ist eine Kombination aus dem spanischen Wort DIOS (Gott) und der Rückennummer 10, die Diego Maradona als Fußballer stets trug. In dem großformatigen Bildband hat Gert Eisenbürger von der Bonner Informationsstelle Lateinamerika (ila) einen Beitrag zum politischen Werdegang Diego Maradonas geschrieben, den wir mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Verlags „Die Werkstatt“ veröffentlichen.
Diego Maradona stammte aus Lanús, einer Vorstadt von Buenos Aires, und wuchs dort in einem jener Viertel auf, die in Argentinien Villas Miserias oder kurz Villas genannt werden, was soviel wie Armenviertel bedeutet. Dort lebten in den sechziger Jahren überwiegend Menschen aus dem Landesinnern, die – wie Diegos aus dem Nordosten Argentiniens stammende Eltern – in die Hauptstadt gezogen waren, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Der Vater fand dort Arbeit in einer Fabrik, sein Lohn reichte aber kaum aus, um die zehnköpfige Familie zu ernähren. Aber anders als heute hatten die damals in den Villas Lebenden noch Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg.
Verbunden war diese Hoffnung mit dem Namen Perón. Juan Domingo Perón war von 1946–55 argentinischer Staatspräsident gewesen, seine zweite Frau Eva, genannt Evita, bis zu ihrem frühen Tod 1952 Architektin einer ambitionierten Sozialpolitik: Perón trieb die rasche Industrialisierung Argentiniens voran, um das Land unabhängig vom bis dahin starken Einfluss der USA und Großbritanniens zu machen. Dafür sollten Unternehmen und Belegschaften an einem Strang ziehen. Den Unternehmen wurden staatliche Unterstützung und Schutzzölle versprochen, den Arbeitenden soziale Verbesserungen.
Die von Evita Perón durchgesetzten Arbeitsgesetze räumten den Arbeitenden erstmalig Rechte ein. Soziale Reformen brachten spürbare Fortschritte, etwa im Gesundheitswesen und der Altersversorgung. Überall – gerade in den Armenvierteln – entstanden Gesundheitsposten und Krankenhäuser. Diego Maradona wurde 1960 in einer Poliklinik geboren, die den Namen „Evita Perón“ trug.
Polarisierender Peronismus
Während die städtischen Armen das Ehepaar Perón regelrecht verehrten, neigten die Wohlhabenden, der Mittelstand und die meisten Intellektuellen dazu, es zu verteufeln. Sie kritisierten – durchaus zu Recht – den autoritären Gestus und Führerkult, vor allem aber rümpften sie die Nase über die peronistische Basis aus den Vorstädten. Die bestand für die Bessergestellten schlichtweg aus Proleten und „Lumpen“ – im argentinischen Spanisch wird das deutsche Wort „Lumpen“ für die unterste soziale Schicht benutzt: Menschen ohne feste Arbeit, die sich mit Gelegenheitsjobs, Straßenhandel, Prostitution und Kleinkriminalität über Wasser halten.
Seine Sozialisation in der Villa und im peronistischen Milieu prägte Diego Maradonas Blick auf die Gesellschaft. Dazu gehörte eine Sensibilität für soziale Verhältnisse, ein Vertrauen in autoritäre Führungspersönlichkeiten mit sozialem Anspruch und ein Widerspruchsgeist gegen arrogante Eliten, die benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Menschen aus ärmeren Regionen verachten. Das bedeutete für Maradona aber keineswegs eine Ablehnung kapitalistischer Verhältnisse. Sie nahm er als gegeben an.
Maradona wollte nach oben.
Sein fußballerischer Aufstieg vollzog sich in einer Zeit, die heute als dunkelste Epoche der argentinischen Geschichte gilt, die zivil-militärische Diktatur von 1976 bis 1983.
Schon die gesamten sechziger und siebziger Jahre waren von politischen Krisen geprägt. 1955 hatte eine Allianz aus rechten Kräften (Militär, Großgrundbesitzer, Unternehmer, katholische Kirche) Perón gestürzt. Doch die Rechten vermochten nicht, ein wirtschaftliches Modell mit einer Perspektive für alle Bevölkerungsgruppen zu etablieren. Lohnniveau und soziale Standards bröckelten, die Unzufriedenheit wuchs.
In den armen Vierteln organisierten die nun verbotenen Peronisten den Widerstand. Auch die mittelständische Jugend begann zu rebellieren. Manche organisierten sich in revolutionären Gruppen, andere schlossen sich den Peronisten an. Doch bei denen gab es immer größere interne Konflikte zwischen autoritär-nationalistischen und linken Kräften. 1973 kamen die Peronisten wieder an die Regierung. Doch auch mit dem 1974 aus dem spanischen Exil zurückgekehrten Juan Domingo Perón gelang es ihnen nicht, die sozialen Proteste unter Kontrolle zu bringen, weil sie die linken Kräfte nicht einbanden, sondern verfolgten. Deren Antwort: radikale, zunehmend auch bewaffnete Aktionen.
Staatsstreich 1976
Im März 1976 kam es zu einem vom Militär und den rechten Wirtschaftseliten getragenen Staatsstreich, der eine Phase extremer Unterdrückung und schwerster Menschenrechtsverletzungen einleitete. Anders als in den Diktaturen der Nachbarländer Chile und Uruguay, wo sich die Repression vor allem gegen Oppositionelle in Betrieben und Armenvierteln richtete, waren viele der von den argentinischen Militärs Verfolgten Studierende aus dem Mittelstand.
Der zum Zeitpunkt des Putschs knapp 16-jährige Diego Maradona hatte mit Politik nicht viel am Hut. Das gefiel den Militärs, die ihr Image als blutige Schlächter zu ändern suchten. Die Fußball-WM 1978 im eigenen Land, die das argentinische Team gewann, war in diesem Sinne ein großartiger Propagandacoup.
Ein Tag Militärdienst – mit Fototermin
Zwar hatte Nationaltrainer Menotti 1978 auf den gerade volljährigen Maradona verzichtet, aber die Militärs sollten im Jahr darauf die Gelegenheit erhalten, sich im Glanz des „Goldjungen“ zu sonnen. Maradona kehrte als Star der Junioren-WM aus Tokio nach Argentinien zurück und dankte beim Empfang artig dem Diktator Videla für die Unterstützung der Regierung. Kurz danach wurden Maradona und zwei weitere Spieler zum Militärdienst eingezogen, der für Maradona nur einen Tag dauerte; gerade lange genug, dass er in Uniform und mit Kurzhaarschnitt zum Fototermin mit Videla erscheinen und ein paar patriotische Plattitüden von sich geben konnte.
Weil Maradona immer populärer wurde und sich von den Militärs partiell für ihre Propaganda einspannen ließ, untersagte Flottenadmiral Carlos Lacoste, der 1978 die WM organisiert hatte und bis 1982 im FIFA-Exekutivkomitee saß, per Dekret den Wechsel argentinischer Spieler ins Ausland. Sie sollten zuhause ihre patriotische Pflicht erfüllen. Das zielte vor allem auf Maradona, der mit dem FC Barcelona in Verbindung gebracht wurde.
Zu Boca Juniors
Lacoste war auch im Präsidium des Club Atlético River Plate, kurz River, des Hauptstadtklubs der Wohlhabenden und des Mittelstands. Dessen Fans verbindet eine lang gepflegte Feindschaft mit denen des Club Atlético Boca Juniors, kurz Boca, die vor allem aus dem proletarischen Milieu kommen. Lacoste hoffte mit dem Dekret einen Wechsel Maradonas zu River eingeleitet zu haben. Doch trotz eines für argentinische Verhältnisse sehr lukrativen Angebots, ging Maradona ausgerechnet zu Boca, dem Lieblingsclub seines Vaters und seiner Leute in Lanús.
Jahrzehnte später führte Maradonas Bemühen von seiner Drogensucht loszukommen, ihn im Jahr 2000 ins sozialistische Kuba. Was zunächst keine politische Entscheidung, sondern dem Umstand geschuldet war, dass das kubanische Gesundheitswesen als das beste in Lateinamerika gilt. Viele reiche, meist konservative Lateinamerikaner*innen lassen komplizierte medizinische Eingriffe und Behandlungen lieber in Kuba vornehmen als im eigenen Land oder in den USA. Für den kubanischen Staat ist dieser „Medizintourismus“ eine wichtige Devisenquelle.
Prestigegewinn für Kuba
Dass das argentinische Fußballidol zum Drogenentzug nach Kuba kam, war für dessen Regierung ein enormer Prestigegewinn. Fidel Castro besuchte Maradona in der Klinik. Der greise máximo líder wurde für den Fußballer, der über fast fünf Jahre regelmäßig in Kuba weilte, zu einer Art Vaterfigur. Bereitwillig lobte Maradona die Errungenschaften der kubanischen Revolution. Im Jahr 2005 hatte Maradona seinen nachhaltigsten politischen Auftritt. Auf dem Gipfel der Regierungschefs Lateinamerikas, der Karibik, der USA und Kanadas Anfang November in der argentinischen Stadt Mar del Plata sollte nach dem Willen des damaligen US-Präsidenten George Bush der Startschuss für die Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA fallen. Dagegen gab es eine breite Protestbewegung. Viele Menschen in Lateinamerika befürchteten die dauerhafte Festschreibung der US-Dominanz auf dem Kontinent. Zu den Höhepunkten der Proteste während des Gipfels zählte eine Kundgebung im vollbesetzten Fußballstadion von La Plata. Hauptredner war der venezolanische Präsident Hugo Chávez. Nach ihm sprach Maradona.
Obwohl der ehemalige Fußballstar nur wenige Sätze sagte, im Kern betonte, dass sich Lateinamerika von der US-Vorherrschaft befreien würde, waren die Leute begeistert. Als der Gipfel sich dann vor allem wegen des Widerstands der Regierungen Brasiliens und Argentiniens faktisch vom Projekt ALCA verabschiedete, sahen viele darin auch ein Verdienst Maradonas.
Zwischen 2000 und 2010 kamen in Venezuela, Brasilien, Bolivien, Argentinien Paraguay und Uruguay erstmalig linke bzw. sozialdemokratische Kräfte an die Regierung. Sie suchten den Kontakt zu dem in ganz Lateinamerika ungebrochen populären Maradona, der ihren Einladungen gerne Folge leistete, sich mit ihnen ablichten ließ und sie für ihre Politik lobte. Besonders engagiert war seine Unterstützung für den argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner (2003–2007) und dessen Frau und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015, seit 2019 Vizepräsidentin).
Links-Peronismus
Mit den Kirchners übernahmen erstmals eher linke Peronisten die Regierung. Neben sozialpolitischen Maßnahmen trieben sie die politisch-juristische Aufarbeitung der von der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit voran. Obwohl der junge Diego Maradona sich seinerzeit von der Diktatur hatte benutzen lassen, unterstützte er nun die Initiativen der Kirchner-Regierungen und reflektierte selbstkritisch seine frühere politische Naivität.
Während sein Engagement für die Mitte-Links-Regierungen auch in Europa zur Kenntnis genommen wurde, blieb seine Unterstützung für die größte politische Bewegung der letzten Jahre in Argentinien, nämlich der für die Entkriminalisierung von Abtreibungen, international kaum beachtet.
In Europa unbeachtet: Maradona – gegen den Papst – an der Seite der argentinischen Frauenbewegung
Wegen des großen Einflusses der katholischen und evangelikalen Kirchen stehen Schwangerschaftsabbrüche mit Ausnahme der laizistischen Staaten Kuba und Uruguay sowie der Hauptstadtregion Mexikos überall in Lateinamerika unter Strafe. Das bedeutet, dass Abtreibungen im Verborgenen stattfinden, wo medizinische Ausstattung und Ausbildung oft unzureichend sind. Schwerwiegende Komplikationen bei Abbrüchen gehören in Lateinamerika zu den häufigsten Todesursachen jüngerer Frauen. Gegen diese Form struktureller Gewalt formierte sich in Argentinien in den letzten Jahren eine breite feministische Bewegung, in der sowohl Frauen aus den ärmeren Vierteln als auch mittelständische Frauen aktiv sind. Die Kampagne brachte Hunderttausende auf die Straße.
Für viele überraschend solidarisierte sich Diego Maradona mit ihrem Anliegen. Er erklärte, es sei ein Skandal, dass Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen wollten, dies nur unter großer Gefahr tun könnten. Die klare Positionierung zugunsten der feministischen Mobilisierung überraschte nicht nur, weil er bisher eher als Macho hervorgetreten war und sich mit der Anerkennung seiner diversen unehelichen Kinder schwer tat. Sie überraschte auch, weil er mehrfach Bewunderung für seinen ebenfalls aus dem Peronismus kommenden Landsmann Jorge Mario Bergoglio bekundete, der als Papst Franziskus in Rom residiert und die Kampagne gegen das Abtreibungsverbot mehrfach kritisiert hatte. Argentiniens Frauenbewegung war übrigens am Ende erfolgreich: Im Dezember 2020 verabschiedeten beide Kammern des Parlaments eine Aufhebung des Abtreibungsverbots.
So widersprüchlich dies auf den ersten Blick erscheinen mag, so eindeutig passt es zu Diego Maradonas „politischer“ Haltung. Denn die war nie Ergebnis einer klar umrissenen Positionierung, noch war sie so spontan und zufällig, wie es manche europäische Kommentatoren gerne sehen wollten. Tatsächlich hat Diego Maradona einfach nur nie vergessen, wo er herkam.
Der Bildband „D10S. Maradona – Ein Leben zwischen Himmel und Hölle“ ist 2021 im Verlag „Die Werkstatt“ (Bielefeld) erschienen. Er hat 158 Seiten und kostet 29,80 Euro.
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