Mitte Mai legte die Bundesregierung den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht vor. Damit erfüllte sie den Auftrag des Bundestages, in jeder Legislaturperiode eine solche Erhebung zu erstellen. Leider erfolgt die Veröffentlichung zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Bundesregierung und Bundestag haben bis zur Wahl wohl kaum noch Gelegenheit, Mängel zu beseitigen und negativen Entwicklungen entgegenzutreten.

Selbstverständlich weist der zuständige Minister darauf hin, dass bis zur Pandemie alle Einkommensbereiche von der damals günstigen Wirtschaftsentwicklung profitiert haben. Auch im unteren Bereich seien die Löhne gestiegen und die Erwerbstätigkeit habe zugenommen. Der gesetzliche Mindestlohn habe gewirkt, so dass die Löhne der Beschäftigten im unteren Zehntel der Einkommensverteilung am stärksten gestiegen seien.

Allerdings gesteht er auch ein, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine „Verfestigung von Armutslagen“ ergeben hat und dass „für Langzeitarbeitslose und Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben, zu wenig Aufstiegsmöglichkeiten bestehen.“

Weitaus deutlicher ist die Kritik, die von Institutionen wie dem DGB, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband oder der Arbeiterwohlfahrt geäußert wird. Die Bundesregierung müsse sich schämen, heißt es dort, weil es „immer mehr Arme gebe und die Ungleichheit sich verfestige.“ Die Einkommenszuwächse der vergangenen Jahrzehnte seien nämlich „insbesondere dem mittleren und oberen Einkommensbereich zugutegekommen“. Die Armutsrisikoquote stehe daher „auf einem neuen Höchststand“, und „es gelte immer häufiger: Einmal arm, immer arm.“

Die sich verfestigende oder gar wachsende Ungleichheit zeigt sich sowohl beim Einkommen wie beim Vermögen. Hier einige Kennziffern: Die „obere“ Hälfte der Bevölkerung verfügt über 99,5 % des Vermögen und 70 % der Einkommen. Die obersten 10 % der Haushalte verfügen über 60 % des gesamten Vermögens; einem Prozent der Haushalte gehören fast 30 % des gesamten Vermögens.

Bemerkenswert ist gewiss auch, dass die Einkommensmitte ausgedünnt wird. So ist der Anteil der beiden „Randgruppen“, der Armen und der Wohlhabenden, seit den 80er Jahren von damals zusammen 8 % auf heute 20 % der Gesellschaft gestiegen. Vor allem bei den mittleren und hohen Einkommensgruppen verbessern sich die Einkommen, bei den ärmeren Haushalten ändern sie sich dagegen gar nicht oder sind sogar rückläufig.

Die soziale Mobilität nimmt also ab, die Ungleichheit steigt. Es kommt zu einer Verfestigung der Spaltung und zu einer Polarisierung der beiden sozialen Lager. Nur wenige Wege führen aus der Armut heraus. Ein Jahrzehnt Wirtschaftswachstum und Rekordbeschäftigung hat also nicht zu einer Minderung der Armut und zu mehr Einkommensgleichheit geführt, sondern die Lage noch verschärft.

Einige Einzelfaktoren vertiefen dieses Bild.

# Laut Paritätischem Gesamtverband zeigt der Bericht die katastrophalen Folgen der Agenda 2010 für die Arbeitslosen. 1995 war ein Drittel der Arbeitslosen dem sozialen Lager „Mitte“ zuzuordnen und lediglich 15 % der „Armut“. 2015 lagen nur noch weniger als 10 % in der „Mitte“, aber zwei Drittel in der „Armut“.

# Der DGB weist darauf hin, dass auch nach Einführung des Mindestlohns eine erhebliche Zahl von Beschäftigten darunter liegende Löhne erhält. Daher lebten immer noch 8 bis 9 % der Erwerbstätigen in Armut.

# Bei der Einstufung in die drei Lebenslagen bleibt deren Verschuldung unberücksichtigt. Ver- und Überschuldung betrifft jedoch insbesondere einkommensschwache Haushalte. Der Schuldendienst führt dazu, dass ein Teil des ihnen statistisch zugewiesenen Einkommens gar nicht verfügbar ist.

# Die stark steigenden Mieten zwingen einkommensärmere Haushalte dazu, einen höheren Anteil ihres Einkommens dafür einzusetzen. So wendete das Fünftel mit dem niedrigsten Einkommen 37,4 % des verfügbaren Einkommens für Mieten auf und damit fast doppelt so viel wie der Durchschnitt (Paritätischer Verband).

# Die Armut hängt auch mit den schlechteren Arbeits- und Verdienstchancen von Zugewanderten zusammen. Deren geringe Einkommen waren 2016 noch weiter vom Einkommen des Bevölkerungsdurchschnitts entfernt als zehn Jahre zuvor.

# Während der Coronapandemie ist vor allem das Einkommen der (Super)Reichen weiter gewachsen, während breite Teile der Bevölkerung Einkommensverluste zu beklagen hatten. Bestehende Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt und bei Gesundheit und Bildung haben sich verschärft. Allerdings haben die Sozialpakete noch größere negative Verteilungseffekte verhindert.

Es gibt also viel zu tun, bis Deutschland die Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft“ verdient. Das sieht auch der Bundesarbeitsminister selbst ein und fordert „schnellstmöglich einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 €/h“, eine Stärkung der Tarifbindung und die Reform der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die genannten Institutionen gehen weit darüber hinaus. So fordert der DGB auch eine „Austrocknung des Niedriglohnsumpfs“ die Abschaffung sachgrundloser Befristungen und die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Der Paritätische Verband verlangt eine Erhöhung der Grundsicherung auf mindestens 600 €/m.

Einig ist man sich in der Auffassung, das eine Steuerung durch Steuern erfolgen muss. Genannt werden die Wiederbelebung der Vermögensteuer, eine wirksamere Erbschaftsteuer, die stärkere Besteuerung von Kapitalerträgen, eine steuerliche Entlastung unterer Einkommen und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Denkt man dann noch an Steuerflucht und Steueroasen, an Sicherungslücken im Alter, an die Auswüchse auf dem Wohnungsmarkt oder an die Ungerechtigkeit bei Bildungschancen, so tut sich ein breites Handlungsfeld auf.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.