Westbindung, Bastion gegen den Osten und nur ein scheinbarer Bruch mit den Nazis. Die Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum dekonstruiert den Mythos von der kulturellen Neugründung der Bundesrepublik
Ein holzgetäfelter Raum im Stil der 70er Jahre. Im Vordergrund ein Schreibtisch mit Telefonen, Bildschirm und Bogenlampe, im Hintergrund eine Besprechungstafel, alles in Ockertönen. An der Wand sieht man das Bild einer Meereslandschaft in Braun und Blau. Man übersieht die kleine Fotografie leicht in der jüngsten Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin. Doch wer über die ideologische Wirkungsgeschichte der documenta nachdenkt, dem liefert das Dokument einen erhellenden Moment.
Als Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 sein Amtszimmer im neu gebauten Bundeskanzleramt in Bonn bezog, hängte er ein Schild vor die Tür, auf dem „Nolde-Zimmer“ stand. Drinnen hängte er das Werk „Meer 3“ des 1956 gestorbenen norddeutschen Malers auf. Einundzwanzig Jahre nach der Gründung der documenta im Jahr 1955 ratifizierte der mächtigste Politiker des Landes noch einmal die gezielte Geschichtsklitterung von deren Gründervätern, der expressionistische Maler sei ein Held des inneren Widerstands gewesen. In Wahrheit war Nolde ein glühender Antisemit. Doch der Kunsthistoriker Werner Haftmann, wichtigster Mitarbeiter von documenta-Gründer Arnold Bode, sorgte dafür, dass Nolde auf der ersten Schau einen prominenten Auftritt und den unverdienten Ritterschlag des „existenziellen Antifaschisten“ erhielt.
Ganz neue Erkenntnisse über die in den vergangenen drei Jahren scheibchenweise zutage geförderten NS-Hintergründe der documenta liefert die Ausstellung nicht. Sieht man von dem Brief ab, mit dem Werner Haftmann zugab, von Noldes Gesinnung gewusst zu haben. „Zu tun ist da nichts weiter, als den Mund zu halten“, schrieb er 1963 an den Schokoladefabrikanten und Kunstmäzen Bernhard Sprengel, als in den USA ein Streit über den „wüsten Nazi Nolde“ anhub. Wenn das Helmut Schmidt gewusst hätte …
Ausgrenzung des Jüdischen
Der Schau gebührt aber das Verdienst, die bislang meist unter Experten diskutierten Forschungen nun einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Kein leichtes Unterfangen. Die Schwierigkeit, die spannende Großthese der Kurator:innen von der „Neuerfindung der Bundesrepublik“ unter der doppelten Frontstellung von Westbindung und Antikommunismus bei gleichzeitiger Abwehr der braunen Vergangenheit sinnlich nachvollziehbar zu machen, zeigt sich gleich zu Beginn.
Für die Kunstwissenschaftlerin Julia Friedrich vom Kölner Museum Ludwig ist beispielsweise Wilhelm Lehmbrucks Statue „Die große Knieende“ aus dem Jahr 1911 ein zentraler Beleg für Haftmanns documenta-1-Strategie.
Von den Nazis als „entARTEt“ geschmäht, signalisierte das Werk zwar – wie gewollt – die Versöhnung mit der verfemten Moderne. So wie Bode und Haftmann sie vor den unverputzten Wänden des Fridericianums platzierten, verdrängte sie zugleich die Frage nach Verbrechen und Verantwortung mittels einer „Inszenierung diffuser Verstricktheit“ und dem „Pathos transzendentaler Obdachlosigkeit“. In Kassel stand Lehmbrucks Arbeit 1955 in den ausgebombten Ruinen. In Berlin steht sie nun in einem niedrigen Saal unter einer Deckenleuchte auf einem niedrigen Podest. Zum Beweisstück geschrumpft, lässt sich die ideologische Prägekraft von einst höchstens erahnen.
Ansonsten gleicht die Schau mitunter einer forensischen Schnitzeljagd, bei der man sich ziemlich oft über Vitrinen beugen muss. Etwa, um das vergilbte Dokument in Augenschein zu nehmen, mit dem der Oxforder Historiker Bernhard Fulda die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns belegen konnte.
Oder um mit zwei grauen Künstlerlisten vom Dezember 1954 belegt zu bekommen, dass jüdische und kommunistische Künstler:innen auf den ersten documenta-Schauen nicht nur zufällig nicht wieder rehabilitiert wurden, oder weil nicht schnell genug an Leihgaben zu kommen war, sondern mit Vorsatz aus der Moderne à la Haftmann ausgegrenzt wurden.
Auf dem Zettel findet sich der durchgestrichene Name von Otto Freundlich, einem kommunistischen Künstler, der 1943 in Majdanek ermordet wurde, und der von Rudolf Levy. Der jüdische Maler wurde 1943 in Florenz, wo zeitweilig auch Haftmann wohnte, von der SS verhaftet. Er starb auf dem Transport nach Auschwitz.
Es ist also kein Zufall, dass in der Ausstellung viele Werke des Emigranten Levy wie ein Selbstporträt aus seinem Todesjahr hängen, die auf der documenta 1 nicht gezeigt wurden. Hier weitet sich das Prinzip der Kuratorinnen „Lücken aufzeigen, ohne sie zu reproduzieren“ zur Rehabilitierung.
Die Ausgrenzung des Jüdischen verfolgte natürlich einen Sinn. So wie Bode und Haftmann auf Abstrakte wie Fritz Winter, Georges Braque oder Alexander Calder setzten, sollte das die Abgrenzung zum NS-Kunstverständnis und den Anschluss an das ästhetische Credo West markieren. Wären jüdische Künstler berücksichtigt worden, hätte unweigerlich die Frage nach dem Terrorsystem der Nazis im Raum gestanden, das sie ermordete und an dem etliche der Mitarbeiter:innen der ersten vier documentas beteiligt waren.
Vielleicht schrieb deshalb Haftmann wider besseres Wissen den ungeheuerlichen Satz: „Die moderne Kunst wurde als jüdische Erfindung zur Zersetzung des ‚Nordischen Geistes‘ erklärt, obwohl nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war.“ Groß prangt das Zitat aus seinem epocheprägenden Werk „Die Malerei des 20. Jahrhunderts“, von dem ein Originalexemplar unter einem Glassturz in der Schau ruht, auf einer der Stellwände der Ausstellung.
Erst 1977, 22 Jahre später also, standen die Zeichen in Kassel auf Aufarbeitung. Ausgerechnet mit dem Bild eines der bis dato ausgegrenzten Künstler aus der DDR. In Berlin ist noch einmal Werner Tübkes großformatiges Ölgemälde „Die Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III“ von 1965 zu sehen. Mit der Figur eines fiktiven Richters spielte der sozialistische Manierist auf die Auschwitzprozesse an.
Befreiung aus dem Korsett
Es gehört freilich zur Dialektik der documenta, dass sie nie nur ein Verblendungs- und Instrumentalisierungszusammenhang war. Spätestens mit der von dem Schweizer Kurator Harald Szeemann kuratierten documenta 5 im Jahr 1972 ebnete sie unter dem Titel „Bildwelten heute“ die Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur ein, hatte sie sich aus dem engen Korsett der Gründerväter befreit.
Davon zeugen die lustigen Gartenzwerge mit den Gesichtern von Adenauer, Chruschtschow oder de Gaulle, die Eberhard Roters damals als Beispiele des Trivialrealismus in der Sektion „Parallele Bildwelten“ neben Büsten oder ideologischen Emblemen gezeigt hatte. Doch unabhängig von jeder ideologischen Blickformatierung durch die Schau, die im nächsten Jahr mit ihrer 15. Ausgabe 77 Jahre alt werden wird, eint alle ihre Freund:innen das Gefühl der „Erwartung von etwas Künftigem, noch Unbenennbaren“.
Das gestand Ingeborg Lüscher, die Frau des 2005 gestorbenen Harald Szeemanns, dem Übervater aller Kurator:innen, DHM-Kuratorin Julia Voss in einem Interview, das in dem hervorragenden, weil prägnanten und informativen Katalog abgedruckt ist.
Bei jeder bevorstehenden Ausgabe, so beschrieb die Foto- und Installationskünstlerin das der Schau eben auch eigene Prinzip der imaginativen Grenzerweiterung, hofften die Besucher doch immer wieder auf „die Ausdehnung der Welt“. Ein zeithistorisches Kontinuum, das sich nicht ausstellen lässt.
Bis 9. Januar 2022, Deutsches Historisches Museum, Berlin. Katalog (Prestel Verlag) 28 Euro. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.
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