Fünfzehn Jahre Hartz IV! Am 1.1.2005 trat Teil IV der sogenannte Agenda 2010 in Kraft, mit der Kanzler Gerhard Schröder die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft steigern und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erreichen wollte. Schröder hatte es geschafft, die SPD für dieses umstrittene Vorhaben zu gewinnen und auch seinen grünen Koalitionspartner in die Pflicht zu nehmen. CDU/CSU und FDP unterstützten das Gesetzesvorhaben, wenn auch nicht in allen Punkten. Seine Ziele lagen ja im Interesse der Wirtschaft.
Schröder hatte diese Reform 2003 mit klaren Worten gestartet: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen fordern.“ Dies lässt sich leicht an den Inhalten festmachen: Vereinfachung der Leiharbeit und Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Erleichterung geringfügiger Beschäftigung, Verringerung der Bezugsdauer von Arbeitslosenunterstützung, Kürzungen beim Arbeitslosengeld und Senkung der Zumutbarkeitsgrenzen bei der Annahme neuer Arbeitsplätze.
Einschneidend war das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (dies ist der Originaltitel, keine Satire), mit dem das Arbeitslosengeld II geschaffen wurde, umgangssprachlich Hartz IV genannt. Es brachte Streichungen beim Arbeitslosengeld und die Zusammenführung der früheren Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer Grundsicherung auf dem Niveau des Existenzminimums, verbunden mit Sanktionen und Leistungskürzungen.
Die Agenda 2010 polarisierte wie kaum ein anderes Gesetzesvorhaben und bezog vielfältige Kritik. In zahlreichen Städten fanden große Demonstrationen gegen den befürchteten Sozialabbau statt, meistens montags unter Bezug auf die Montagsdemonstrationen zum Ende der DDR. Der DGB beklagte die „Fortsetzung des Sozialabbaus“. Der Aachener Friedenspreis formulierte seine Kritik besonders deutlich („Armut vermeiden heißt Frieden schaffen“, Arbeitspapier vom 1.12.2004):
„Wer Menschen, die jahrzehntelang ihren Beitrag im Arbeits- und Wirtschaftsleben geleistet und ordnungsgemäß ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, nach einjähriger Arbeitslosigkeit auf das Existenzminimum drückt, bekämpft die Arbeitslosen, nicht die Arbeitslosigkeit…. Die regierungsamtliche Aussage, die Hartz-IV-Regelungen seien zur Wiedereingliederung der Langzeitarbeitslosen notwendig, ist eine Diffamierung jener vielen Menschen, die nach jahrzehntelangem Berufsleben in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden und die verzweifelt nach einer neuen Stellung suchen.”
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes sorgte zwar für einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen, schuf aber auch große Probleme für viele Arbeitnehmer: Ausweitung der Leiharbeit, Druck auf Arbeitssuchende, jeden Job anzunehmen. Und die Armut hat zugenommen. Trotz Mindestlohn existiert ein riesiger Niedriglohnsektor und die Schere zwischen Arm und Reich ist gewachsen. Laut Paritätischem Gesamtverband war 1995 ein Drittel der Arbeitslosen dem sozialen Lager „Mitte“ zuzuordnen und lediglich 15 % der „Armut“. 2015 lagen nur noch weniger als 10 % in der „Mitte“, aber zwei Drittel in der „Armut“. (Der Paritätische vom 17.5.2021: Der neue Armuts- und Reichtumsbericht: Ein Zeugnis von Armut und Ungleichheit)
Die Proteste gegen Hartz IV wurden zwar schwächer, die Demonstrationen verebbten, die Kritik jedoch blieb. Für die SPD blieb Hartz IV eine große Bürde, die auch auf ihre Wahlergebnisse durchschlug (zuletzt noch bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt). Geschickter machten es die Grünen: Sie bemühten sich, ihre Mitverantwortung für dieses Gesetz klein zu reden oder gar zu verdrängen (was auch weitgehend gelang).
Inzwischen sehen SPD und Grüne ein, dass Hartz IV eine Fehlentscheidung war, und planen eine Revision. Die SPD hat schon 2019 ein Sozialstaatskonzept beschlossen, um Hartz IV zu überwinden. Im Programm zur Bundestagswahl heißt es, dass es künftig ein soziales Bürgergeld geben soll. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil gesteht ein, dass viele „das System schon lange als zu bürokratisch und stigmatisierend empfänden“. Er will es „entschärfen“.) Ersparnisse bis zu 60.000 € und Mietkosten sollen zunächst nicht geprüft und angetastet werden. Langzeitarbeitslose, die Termine versäumen oder Jobs ablehnen, sollen nur noch begrenzt sanktioniert werden. Weiterbildung soll Vorrang haben vor irgendwelchen Hilfsjobs. Mutterschaftsgeld, Einkünfte aus Ferienjobs und Entschädigungen für Ehrenämter sollen nicht mehr als Einkommen angerechnet werden.
Die Ideen von Heil stießen bei Grünen und Linken sowie beim DGB auf grundsätzliche Zustimmung. Die Grünen fordern mittelfristig eine sogenannte „Garantiesicherung“. Sanktionen soll es nicht mehr geben. Der Regelsatz soll schrittweise steigen, zunächst um 50 €. Die Anrechnung von Einkommen und die Vermögensprüfung sollen großzügiger gehandhabt werden.
Die Linken, von Anfang an ein scharfer Gegner der Agenda 2010, wollen Hartz IV durch „eine sanktionsfreie Mindestsicherung“ von monatlich 1200 E ersetzen. Es soll also keine Kürzungen seitens des Staates mehr geben. Die Regelung soll auch für Asylbewerber und hier lebende EU-Bürgerinnen und Bürger gelten. Wohn- und Stromkosten sollen „in tatsächlicher Höhe“ vom Staat übernommen werden, ebenso die Kosten für langlebige Gebrauchsgüter und für eine digitale Grundausstattung.
Die Union will am Grundsatz „Fördern und Fordern“ und am Sanktionsmechanismus festhalten, ein bedingungsloses Grundeinkommens lehnt sie ab. Gewisse Modifikationen sind geplant (Neugestaltung der Einkommensanrechnung, Ausweitung der Zuverdienstmöglichkeiten, Schutz der „vertrauten Wohnsituation“).
Ablehnend gegenüber einem Grundeinkommen äußert sich auch die FDP. Sie will den anrechnungsfreien Zuverdienst erhöhen und das Schonvermögen ausweiten. Arbeitslosengeld II, die Grundsicherung im Alter, Wohngeld und weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen sollen durch ein „liberales Bürgergeld“ ersetzt werden.
Es ist unverkennbar, dass Bewegung in die Einschätzung von Hartz IV gekommen ist. Die Linken fühlen sich in ihrem langen Kampf gegen die Agenda 2010 bestätigt. Diejenigen Parteien, die dieses Gesetz geschaffen haben, treten für Änderungen ein. Allerdings sind die Vorschläge von SPD und Grünen keine Überwindung von Hartz IV, sondern nur eine Modifikation der Rahmenbedingungen. Diese Haltung ist nur bedingt wahlkampftauglich, bildet jedoch wohl die Obergrenze von Einsicht und Reformbereitschaft.
Union und FDP stimmen kleineren Modifikationen zu, weil sie dies den anderen Parteien nicht allein überlassen wollen. Die Kritik an Hartz IV ist immer noch virulent, und sie wollen diese nicht allein auf sich ziehen. Die Zukunft von Hartz IV ist damit entscheidend vom Ergebnis der Bundestagswahl abhängig. Möglicherweise übernehmen Union und FDP danach die Verteidigung von Schröders Arbeitslosenfehde.
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