Gut Ding braucht Weile. Diese Volksweisheit könnte das deutsche Nationalmotto sein und unter dem Adler an der Stirnwand des Bundestages prangen. Die Republik hat es gerne langsam. Dass sie kein Tempolimit hat, widerspricht dieser Erkenntnis nicht. Es läuft ja nicht der Autofahrer. Er lässt das Auto laufen. Er sitzt bei Fahren – am liebsten möglichst bequem.

Gar nicht genug bekommen

Muss sich Deutschland zwischen „gut Ding“ und „Weile“ entscheiden, ist die Wahl schnell getroffen. Sie fällt zugunsten der „Weile“ aus. Von ihr kann Deutschland nicht genug bekommen. Es geht der Republik mit ihr wie dem Bären mit dem Honig.

Um einen Flughafen zu bauen, braucht man hierzulande neun Jahre Planung und 14 Jahre Bauzeit. In Deutschland geht man davon aus: Was lange währt, wird endlich gut. Damit es lange währt, wird oft noch nach dem Baubeginn weitergeplant, damit sich die Bauzeit verlängert und das „Ding“ richtig gut werden kann.

Das Rad aufs Neue drehen

Die Deutschen nehmen sogar in Kauf, dass über die vielen Jahre der „Weile“ aus einem „gut Ding“ ein „alt Ding“ wird, das bei seiner Vollendung weit hinter der Zeit her hinkt und modernisiert werden muss. Bis man sich dazu durchringt, braucht es seine Zeit.

Ist sie gekommen, wird es erforderlich, erneut zu planen. Und dann beginnt sich das Rad von Neuem zu drehen, aber immer schön langsam, damit genügend „Weile“ entsteht. Diesem Kreislauf kann Deutschland viel abgewinnen. Man stößt auf ihn, wohin man schaut.

Viele Vorschriften erlassen

Um ein Windrad zu planen, braucht es im Durchschnitt fünf Jahre. Errichten lässt sich ein solches Bauwerk in drei Wochen. Zu diesem Zweck wurden viele Vorschriften erlassen, die Dutzende Seiten füllen. So ist gewährleistet, dass auf dem Weg von der ersten Idee bis zum Baubeginn eine lange „Weile“ entsteht.

Die Vorschriften in Deutschland sind nicht nur zahlreich, sondern auch kompliziert. So kompliziert, dass es viele geschulte Fachleute braucht, die nichts anderes tun, als solche Vorschriften zu deuten und zu erklären.

Eine wachsende Schicht von Beratern

An dieser Stelle wird klar: Vorschriften und Regelwerke werden nicht nur gemacht, um überstürztes Handeln zu unterbinden und „Weile“ zu erzeugen. Sie dienen auch einem weiteren hohen Zwecke: Arbeitsplätze zu schaffen.

Neben Ideengebern, Planern, Ausführern und Finanziers ist im Laufe der Zeit eine wachsende Schicht von Beratern entstanden. Sie haben alle Hände voll zu tun, die Vorschriften auszulegen und den übrigen Beteiligten nahe zu bringen.
In fast alle Lebensbereiche gedrungen
Der Prototyp dieser Schicht ist der Steuerberater. Er ist inzwischen mutiert und in die meisten anderen Lebensbereiche gedrungen. Ohne Berater kämen viele Menschen in diesem Land nicht mehr kollisionsfrei zurecht. Seit die Zahl der Berater zunimmt, ist die Produktion von Verordnungen und Regelungen stark angestiegen. Dieser Zuwachs erfordert weitere Berater.

Dort, wo sie ihre Finger stark im Spiel haben, stapelt sich die „Weile“. Das Land brauchte 20 Jahre Pisa-Studien und eineinhalb Jahre Pandemie, um zu erkennen, dass der Schulunterricht rückständig ist, dass die Schulen nicht ans Internet angeschlossen sind und dass viele Schulgebäude nur schwache Stromleitungen haben und verfallen.
Schüler sträflich vernachlässigt
Ähnlich lange brauchte die Republik, um zu erkennen, dass Kinder wissbegierig, lernwillig und leistungsbereit sind und dass die Bundesländer mit ihren Ministerpräsidenten und ihren Kultusministern die Interessen vieler Jahrgänge von Kleinkindern und Schülern sträflich vernachlässigt haben.

Viel Zeit kostete es auch, bis sich in Deutschland die Erkenntnis durchsetzte, dass es hier zulasten der Pflegebedürftigen, der Angehörigen und der Pfleger einen riesigen Notstand gibt, in dem himmelschreiend rechtswidrige Zustände herrschen.

Dem Druck standhalten

Viel „Weile“ war auch nötig, damit sich die Einsicht ausbreiten konnte, dass Klimaschutz lebenswichtig ist. Es mussten erst massenhaft Kinder demonstrieren und Gerichte Urteil sprechen, damit die Parteien das Problem zur Kenntnis nahmen.

Man sollte meinen: Sobald ein Missstand erkannt sei, würde sich die Republik beeilen, ihn abzustellen. Diese Annahme ist ein Irrtum. Eile liegt Deutschland fern. Das Land hält den Druck auf die „Weile“ zäh und geduldig aus. Auch für den Weg vom Erkennen bis zum Handeln gilt hier die Regel: Eile mit Weile.
Mangel an Vorsorge
Die politische Elite des Landes hat diesen Grundsatz verinnerlicht. Sie pflegt die „Weile“. Sie brauchte lange, bis sie begriff: Man müsse im Kampf gegen Corona nicht nur über Masken, Desinfektionsmittel und Impfstoff reden, sondern sie auch besorgen.

Selbst als sich diese Ansicht durchgesetzt hatte, taten sich die Spitzenpolitiker schwer, das Material rasch zu beschaffen. Auch beim Kauf von Impfstoff hielt man sich zurück. Man wartete zunächst ab, wie sich die Preise entwickelten. Die mangelnder Vorsorge führt bis heute zu Engpässen.

Immer wieder gescheitert

Selbst beim liebsten Spiel der Deutschen, dem Fußball, hat sich „Weile“ breitgemacht. Nach der Weltmeisterschaft von 2014 erneuerte Bundestrainer Löw nicht etwa die Mannschaft. Er baute ihre Spielweise um. Er entwickelte das Laufspiel zum Standfußball. Seither scheitert die Mannschaft immer wieder in Turnieren.

Die Nation nahm die neue Spielweise und die Niederlagen geduldig hin, weil ihr der Standfußball sehr entgegenkommt. Der Fußball ist beim Geschiebe an der Mittellinie am Fernseher leichter zu verfolgen. Man kann zwischendurch in Ruhe zum Kühlschrank gehen und neues Bier holen, ohne Sorge, man könnte etwas verpassen. Erst jetzt, da Löws Tage als Bundestrainer gezählt sind, regt sich gegen diese Spielweise vorsichtig Kritik. Sie wirkt fast schon hektisch.
Über die Schrumpfversuche vermehrt
Der Amokläufer von Würzburg war im Januar auffällig geworden und in die Psychiatrie eingeliefert worden. Das Gutachten über ihn steht aus, war zu lesen und hören. Wie lange braucht es für solch ein Gutachten? Nun eilt es nicht mehr. Für die Opfer kommt es zu spät.

Seit Jahren wollen die Parteien den Bundestag verkleinern. Geeinigt haben sie sich nicht. Dennoch blieben ihre fruchtlosen Schrumpfbemühungen nicht ergebnislos: Von Wahl zu Wahl wuchs die Zahl der Abgeordneten. Bei der Wahl im Herbst wird das Parlament weiter anschwellen. Was wünscht man da den Parteien und ihren nächsten Bundestagsabgeordneten? „Nur keine Eile, gut Ding braucht Weile.“

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.