Der WDR dokumentiert eine Publikumsdiskussion über Rosa von Praunheims Film “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.” Vor 50 Jahren! Welch eine Ereignis! Rosa v. Praunheim, Martin Dannecker, diskutieren mit Wilderich Ostman von der Leye (SPD) , der jugendlichen Anke Brunn (SPD) und Dr. Emmy Diemer Nicolaus (FDP) und mit einem Psychologen, der seine Homophobie und sein reaktionäres Weltbild hinter einer scheinintellektuellen Psychologisierung der Situation zu verbergen versucht. Fast alle rauchen im Studio wie die Teufel, aber man hört einander zu und bildet ganze Sätze. Jede*r darf Gedanken zuende formulieren, ohne von Mitdiskutant*innen unterbrochen zu werden und – heutzutage undenkbar – geht aufeinander und seine bzw. ihre Argumente ein.
Der Moderator Reinhard Münchenhagen hat jederzeit die Situation im Griff, auch wenn er mal aufstehen muss und sich am Ende der Diskussion demonstrativ unter die Betroffenen im Publikum setzt. Eine Sternstunde der Fersehkultur, die Kritik am Bestehenden ermöglicht. Denn dank der Beiträge der anwesenden Frauen und frühen Feministinnen kam eine ganz andere, nicht unbedingt geplante Erweiterung der Perspektive zustande: Dass das traditionelle Familienbild als Sozialisationsagentur für den funktionierenden Kapitalismus in Kleinfamilien eben nicht nur schwule Lebensweisen, sondern vor allem die eremanzipationswilligen Frauen unterdrückt. Das Erschreckendste an der Diskussion ist eigentlich, dass der Moderator darauf hinweist, dass der Film im WDR absichtlich zu später Stunde – gegen 23.00 – gezeigt wurde und dass sowohl das Zeigen des Films als auch die “Expertendiskussion” lange hin und her erwogen wurden. Ganz zu Beginn verließen dann Rosa v. Praunheim und Martin Dannecker das Expertenpanel und setzten sich demonstrativ unter das Publikum. – Wofür der Moderator Verständnis äußerte.
Was für ein revolutionäres Fernsehen! Welche Freiheiten und welch liberaler Umgang miteinander! Welch mutiger Umgang mit einem zu dieser Zeit heftig umkämpften und tabuisierten gesellschaftlichen Thema! Welcher Mut, sich nicht hinter Ausgewogenheit, Mainstream, Repression zu verstecken und die Situation zu benennen, die Menschen real betrifft, die nicht Lehrer werden dürfen, geschweige denn Polizist, die keine Wohnung bekommen oder im Job diskriminiert werden, weil sie schwul sind. Und das Plädoyer der Feministin, die die traditionellen Geschlechterrollen angreift, aber eben auch herausarbeitet, dass es Kriterien von Heterosexuellen sind, die die Konkurrenz von Männern um Männer und Frauen um Männer präg(t)en. Eineinhalb Stunden Lang wird über Gesellschaftsveränderung diskutiert – klug und kontrovers und deshalb konstruktiv. Fernsehen erster Klasse.
Wahrscheinlich bedürfte es mehr, als im Studio das Rauchen zu erlauben, um wieder Diskussionen dieser Qualität zu ermöglichen.
Zu diesem Zeitkolorit passt diese Erinnerung von Beatrix Novy/DLF, die sich im übrigen auch an diese WDR-Sendung wird erinnern können, die heute an den Bikini erinnerte. “Bikini” vs. “Atom” war ein hochpolitischer Gegensatz:
https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-erstmals-praesentiert-als-der-erste-bikini.871.de.html?dram:article_id=499756
Er verlagerte die Schönheitsfrage in das Individuum hinein, die von nun an “wusste”: nicht sie selbst ist perfekt, sondern immer nur die Andern. So schlau waren die Männer damals – im Geschlechterkrieg.
Reinhard Münchenhagen lebt übrigens
https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_M%C3%BCnchenhagen
Vielleicht sollte der WDR ihn reaktivieren.
Ja den sollte man wirklich wieder in Betrieb nehmen. Wenn ich da an “Je später der Abend” denke, oder überhaupt die Gesprächskultur zu der Zeit. Man hörte zu. Ganz einfach, aber heute unfassbar schwer.