von Hektor Haarkötter / Filiz Kalmuk und Jupp Legrand (Vorwort) – Otto Brenner Stiftung
Seine Leistungen und blinden Flecken
Vorwort
Der Medienjournalismus scheint sich in einer paradoxen Situation zu befinden. Einerseits haben Medienkritik und die Reflexion über Öffentlichkeit spürbar zugenommen. Mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Großkrisen sind Anspruch und Erwartung an die Orientierungsleistung von Medien stark gestiegen. Zeitgleich sank das Vertrauen, wuchsen Enttäuschungen und polarisierte sich die Kritik: an den verschwörungserzählerischen Enden der Skala gehören Verdächtigungen gegenüber ,dem‘ Mediensystem und Diffamierungen von Journalist*innen zur Tagesordnung. Technische Innovationen – allen voran Social Media – sorgen für weltweite Beachtung und wirken wie Brandbeschleuniger. Unterm Strich also: Gute Zeiten für einen Medienjournalismus, dem die „Beobachtung der Beobachter*innen“, zuweilen gar die „Selbstbeobachtung“ des Journalismus zugeschrieben wird und der Orientierung geben kann über Medien, ihre Funktionsweise und ihre Einbettung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Das ist die eine Seite.
Doch auf der anderen Seite sind die warnenden Stimmen nicht zu überhören. „Ich glaube, dass der Medienjournalismus […] mit der Durchsetzung des Internets perdu gegangen ist“, resümierte etwa Lutz Hachmeister vor einigen Jahren anlässlich seines Ausscheidens als Leiter des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik. Doch Hachmeister – Ende der 80er Jahre beim Tagesspiegel mit dem expliziten Ziel eingestellt, ein damals bei deutschen Tageszeitungen noch unbekanntes ,Medienressort‘ aufzubauen – ist mit dieser Einschätzung nicht alleine. Auch Rainer Stadler, Ende 2020 nach über 30 Jahren als Medienredakteur der NZZ ausgeschieden, ist der Meinung, „dass Medienjournalismus in den Massenmedien zunehmend unmöglich wird“. Scheinbar wie zur Bestätigung dieser Einschätzungen (und über den Zeitungsbereich hinaus) kappte der NDR just Anfang 2021 dem einzigen noch existierenden öffentlich-rechtlichen TV-Medienmagazin Zapp die Sendezeit. Steht es also schlecht um den Medienjournalismus? Einerseits vielfältige und glänzende Möglichkeiten, andererseits trübe Realität: ist diese paradoxe Situation eine angemessene Beschreibung?
Die Otto Brenner Stiftung hat mit Hektor Haarkötter und Filiz Kalmuk zwei Medienexpert*inn*en für die Untersuchung dieser Fragen gewonnen. Die beiden Kommunikationswissenschaftler*innen der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg haben die Medienseiten deutscher Tageszeitungen untersucht – neben den auflagenstärksten überregionalen Zeitungen SZ und FAZ auch die taz und wichtige regionale Blätter wie WAZ, Tagesspiegel und Kölner Stadt-Anzeiger. Sie nahmen sich damit den Teil des Medienjournalismus zur Brust, der bei der Kritik von Hachmeister und Stadler im Zentrum stand.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Die Untersuchung identifiziert zwar einige Schwachstellen, die je nach Zeitung unterschiedlich stark ausgeprägt sind, legt aber über alle Zeitungen hinweg ein erstaunlich stabiles Fundament frei, das optimistisch stimmt. Belegt werden eine überwiegend sachliche Berichterstattung und ein ausgeglichener Mix von ,harten‘ medienpolitischen und -wirtschaftlichen Themen einerseits und ,weichen‘ Unterhaltungsthemen andererseits. Eine verzerrte Darstellung politischer Parteien im Medienjournalismus findet die Studie eher nicht. Auch wird eine ausgeglichene Berichterstattung der privatwirtschaftlich organisierten Zeitungen gegenüber der ,Systemkonkurrenz‘ der öffentlich-rechtlichen Medien festgestellt.
Schieflagen gibt es allerdings auch. Die dringend gebotene Reflexion der großen Veränderungen der Medienlandschaft und der gesellschaftlichen Folgen der aktuellen Medienumwälzungen durch die Digitalisierung nehmen im Medienjournalismus nur einen kleinen Raum ein. Dazu passt, dass die europäische Ebene in der medienjournalistischen Berichterstattung vernachlässigt wird. Da Europa bei Fragen der Medienregulierung und der Medienwirtschaft mittlerweile zur zentralen Arena geworden ist, schreibt der Medienjournalismus mit seiner alten Orientierung auf den nationalen Rahmen ein Stück weit an der neuen Realität vorbei. Zentrale Fragen an das Mediensystem können so nicht beantwortet werden, erhoffte Orientierung wird so nicht gegeben. Vielleicht lässt sich dadurch aber das eingangs skizzierte Paradoxon der ungenutzten Möglichkeiten (teilweise) erklären.
Schwer wiegt auch, dass der Medienjournalismus beim Medium Radio taub zu sein scheint: angesichts der täglichen Zahl von über 50 Millionen Hörer*innen ist dies eine erstaunliche Leerstelle. Dass die Studie eine gewisse ,Beißhemmung‘ in der kritischen Berichterstattung über die eigene Branche der Printmedien konstatiert, ist weniger überraschend, gleichwohl aber kritikwürdig. Beim Geschlechterverhältnis wird ebenfalls ein erhebliches Ungleichgewicht erkennbar: Der überwiegende Teil des Medienjournalismus wird nach wie vor von Männern gemacht.
Stiftung und Autor*innen hoffen, mit der vorliegenden Studie der medienjournalistischen Branche sowie der interessierten Öffentlichkeit ein solides Fundament für die (Selbst)Reflexion über den Zustand des Medienjournalismus zu bieten. Wir wollen Anregungen geben und Ermutigungen liefern, damit der Medienjournalismus seine Rolle als „Beobachter der Beobachter*innen“ wieder überzeugender ausfüllen kann
…
Fazit & Empfehlungen
Die Untersuchung der Medienseiten ausgewählter deutscher Tageszeitungen über den Zeitraum von vier Monaten hat auf die gestellten Forschungsfragen klare Antworten gefunden.
Fernsehen dominiert Berichterstattung
In der medienjournalistischen Berichterstattung wird immer noch überwiegend über das Fernsehen geschrieben, 40 Prozent aller analysierten Artikel befassen sich mit diesem Medium. Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht die Medienseite der Westdeutschen Allgemeine Zeitung (WAZ), die nahezu ausschließlich TV-Themen abhandelt. Die WAZ ist auch die einzige Zeitung, deren Medienressort wie ehedem Rundfunk & Fernsehen heißt. Allerdings hat bei den anderen Blättern ein anderes Thema stark aufgeholt und sich auf den Medienseiten einen Stammplatz ergattert: Das Digitale. Netflix, YouTube & Co. sind nicht nur in der Publikumsgunst, sondern auch in der Beachtung durch die Medienredakteur*inn*e*n weit nach oben geschossen. 20 Prozent der Artikel beschäftigten sich im Untersuchungszeitraum mit der Onlinewelt. Doch wo es Gewinner*innen gibt, da gibt es auch Verlierer*innen: Andere Mediengattungen spielen in der Medienberichterstattung kaum eine Rolle. Vor allem Radiothemen werden auf den Medienseiten schon fast radikal ausgeblendet, obwohl das Radio nach wie vor eines der meistgenutzten Medien in Deutschland ist. Auch was die Berichterstattung über andere Printmedien angeht, sind die Medienjournalist*innen der analysierten Tageszeitungen eher zurückhaltend. Hier kann durchaus von ‚Beißhemmung‘ gesprochen werden, und die im Rahmen dieser Studie interviewten Medienredakteur*innen haben dies auch nicht wirklich abgestritten. Als Ausnahme muss die tageszeitung (taz) erwähnt werden: Ihre Medienseite erweist sich in der Untersuchung als die einzige, die statt Fernsehthemen die Printmedien an die erste Stelle ihrer Themenwahl setzte.
Im Zusammenhang mit den digitalen Themen findet sich hinsichtlich der Häufigkeit an erster Stelle der Streamingdienst Netflix mit 109 Erwähnungen, YouTube folgt mit 53 Erwähnungen. Was die klassischen Printmedien angeht, stand vor allem Der Spiegel mit 42 Nennungen im Fokus der Berichterstattung, die Bild wurde insgesamt 18 Mal im Untersuchungszeitraum erwähnt. Unter dem Stichwort ,Nestbeschmutzer‘ muss erwähnt werden, dass die untersuchten Zeitungen kaum übereinandergeschrieben haben, mit Ausnahme der SZ, die insgesamt 16 Mal in der Berichterstattung der (Konkurrenz-)Medien vorkam.
Die Artikel auf den untersuchten Medienseiten greifen am häufigsten die Themenkategorie ‚Fiction/Unterhaltung‘ auf, was mit der starken Fokussierung auf das Medium Fernsehen zusammenhängen kann. Auf den nächsten Plätzen rangieren die Themen ‚Medienpolitik‘, ‚Journalismus/PR‘ und ‚Medienwirtschaft‘. In der Selbsteinschätzung sahen die interviewten Medienredakteur*innen eher die Medienpolitik als wichtigstes Thema ihrer Berichterstattung. Auch dort, wo Digitales thematisiert wurde, standen, parallel zum Fernsehbereich, vor allem Unterhaltungsformate und regulatorische Fragen im Vordergrund.
Aber auch wenn thematisch ‚Fiction/Unter-haltung‘ auf den Medienseiten im Vordergrund steht, kann festgestellt werden, dass die Medienberichterstattung insgesamt eher informations- als unterhaltungsorientiert ist – über viele Unterhaltungsthemen wird sachorientiert berichtet. Das ist auch daraus zu ersehen, dass auf den Medienseiten der Bericht mit mehr als der Hälfte aller analysierten Artikel mit großem Abstand am häufigsten als Darstellungsform eingesetzt wird. Am zweithäufigsten findet sich die Kritik als Darstellungsform, was die historischen Wurzeln der Medienseiten im Feuilleton widerspiegelt und für die durchaus intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Programmangeboten und Medienerzeugnissen steht. Dieses Ergebnis wurde allerdings auch dadurch beeinflusst, dass die WAZ auf ihrer Rundfunk & Fernsehen-Seite fast ausschließlich TV-Kritiken bringt.
Personen statt Unternehmen im Fokus
Zu der Dominanz von Unterhaltungs-/Fiction-Themen auf den Medienseiten der untersuchten Tageszeitungen passt, dass der überwiegende Teil der Beiträge auf der Mikro-Ebene angesiedelt ist und damit zentral Personen und Akteur*innen des Medienbereiches behandelt (51 Prozent der Artikel). Immerhin 43 Prozent der Artikel sind der Meso-Ebene der Unternehmen und Institutionen zuzuordnen, während lediglich sechs Prozent der Beiträge die Makro-Ebene von Staat und (Medien-)Gesellschaft berühren. Bei der Mehrheit der Artikel ist mit 60 Prozent ein nationaler Bezug festzustellen, immerhin 29 Prozent der Beiträ-ge weisen aber auch einen außereuropäischen Bezug auf, während nur elf Prozent einen Bezug zur europäischen Ebene haben. Das ist deswe-gen bemerkenswert, weil wichtige Teile der Medienregulierung sich heute auf europäischer Ebene abspielen und der Medienjournalismus mit dem starken Fokus auf Medienpolitik dieses Terrain eigentlich fester im Blick haben müsste.
Objektiver Medienjournalismus
Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland ist von einem ausgeprägten Dua-ismus zwischen öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Medien geprägt. Die Systemauseinandersetzung dazu findet sich durchaus auch im Medienjournalismus wieder. Anders als erwartet fokussiert sich die Mehrheit der Artikel auf den Medienseiten der untersuchten Tageszeitungen allerdings nicht auf öffentlich-rechtliche, sondern auf private Medien. Bei 53 Prozent der Beiträge geht es um private Medien, bei nur 37 Prozent um öffentlich-rechtliche. In den Artikeln konnte kein ausgeprägter ‚news bias‘, also keine Unausgewogenheit hinsichtlich der Bewertung öffentlich-rechtlicher oder privater Medien, festgestellt werden. Die ganz überwiegende Zahl der Artikel berichtete über die Medien und die Medienangebote unabhängig von der Finanzierungs- und Organisationsform neutral und sachlich. Insgesamt war die Berichterstattung über die Öffentlich-Rechtlichen auf hohem Niveau etwas weniger neutral (67 Prozent) als über die Privaten (76 Prozent). Die etwas höhere Zahl kritischer und negativ-wertender Beiträge in Bezug auf öffentlich-rechtliche Angebote (16 Prozent versus 13 Prozent bei den Privaten) wird durch die Tatsache relativiert, dass auch die Zahl der positiven Wertungen bezüglich öffentlich-rechtlicher Medienangebote höher war (17 Prozent versus elf Prozent bei den Privaten).
Der Medienjournalismus erscheint im Licht der Ergebnisse dieser Untersuchung somit besser als sein Ruf. Er bemüht sich offenkundig, sachlich und überwiegend neutral über sein Berichterstattungsobjekt, nämlich die Medienpolitik, Medienunternehmen und ihre Erzeugnisse sowie deren Akteur*innen zu berichten. Um den Dienst an den Leser*innen sowie seine gesellschaftliche Aufgabe womöglich noch besser zu erfüllen, können aus den vorliegenden Ergebnissen jedoch einige Empfehlungen abgeleitet werden:
– Die Fokussierung auf Unterhaltungsthemen ist zwar verständlich. Wünschenswert wäre aber eine thematische Verschiebung hin zu einer noch stärkeren journalistischen Beobachtung der Beobachter*innen, also des Journalismus selbst und der weiteren professionellen Kommunikation (beispielsweise der PR-Branche).
– Digitalthemen haben zwar ihren Raum im Medienjournalismus erobert, erscheinen aber insgesamt noch unterbelichtet. Ein noch stärkerer Blick auf die Meso- und Makro-Ebene der digitalen Welt wäre notwendig, um den gesamtgesellschaftlichen Charakter der Digitalisierung und Medialisierung angemessen zu begleiten und zu durchleuchten.
– Einige Medien scheinen vernachlässigt zu werden. Dazu zählt insbesondere das reichweitenstarke Radio mit seinen nennenswerten journalistischen Programmbestandteilen. Hier wäre eine kritische Begleitung auch im Dienst der vielen Radiohörer*innen geboten.
– Da die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine öffentliche Aufgabe erfüllen, ist ihre Begleitung durch eine kritische Öffentlichkeit besonders angezeigt. In der Medienberichterstattung überwiegt aber der Blick auf private Medien. Hier wäre, auch um den in den Interviews formulierten Selbstansprüchen gerecht zu werden, ein noch intensiverer Blick auf die öffentlich-rechtlichen Angebote nötig.
– Insbesondere die europäische Perspektive scheint im Medienjournalismus etwas verloren gegangen zu sein. In Anbetracht der hohen Relevanz Europas gerade in Sachen Medienregulierung und Digitalisierung wäre eine intensivere Beschäftigung mit dieser Ebene für eine umfassende Medienberichterstattung ratsam.
– Bei der starken Medialisierung auch der privaten Kommunikation wäre ein stärkerer professioneller Blick auf diese neue, private Seite der Mediengesellschaft dringend notwendig. Medienproduktion ist heute eben nicht mehr nur Sache der Medienprofis. Also sollte auch das Medienschaffen und der Medienalltag der normalen Bevölkerung stärker in den Fokus der Medienberichterstattung genommen werden.
Unabhängiger, engagierter Medienjournalismus
Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister äußerte im Interview etwas resignativ: „Ich glaube, dass der Medienjournalismus (…) mit der Durchsetzung des Internets perdu gegangen ist, also auch mit dem Niedergang einer kenntlichen nationalen Medienindustrie und mit der Integration von Journalismus in übergeordnete Technologien, Apps und Plattformen“ (Hachmeister/Martens 2019). Für diese Resignation scheint kein Anlass gegeben zu sein. Es gibt trotz schwindender finanzieller und damit auch personeller Ressourcen immer noch einen engagierten Medienjournalismus in Deutschland, gerade in der überregionalen Presse. Es ist ihm zu wünschen, dass er seine Unabhängigkeit erhalten kann und seine gelegentlichen ‚Beißhemmungen‘ gerade gegenüber der eigenen Zunft noch mehr ablegt, um der Gesellschaft einen kritischen Blick auf die Medienwelt zu ermöglichen. Den Medienangeboten, die sich von der Medienberichterstattung verabschiedet haben, wäre sehr zu wünschen, dass sie diese Perspektive wieder stärker in den Blick nehmen und in der Zukunft womöglich wieder eigene Medien- oder Digitalressorts schaffen.
Auch für zukünftige wissenschaftliche Untersuchungen des Medienjournalismus bleibt einiges zu tun. So wären Analysen der kritischen Medienbeobachtung im Internet sowie der noch verbliebenen Medienberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und hier vor allem in den Radioangeboten lohnenswert.
Den vollen Wortlaut des OBS-Arbeitsheftes 105 “Medienjournalismus in Deutschland” mit Tabellen, Literaturverzeichnis etc. finden Sie hier.
Letzte Kommentare