Wie gross muss eine Katastrophe sein, damit auch Deutschland versteht? Die grösste seit Menschengedenken wurde vom deutschen Faschismus verursacht. Nur die Generation meiner Eltern, nur wenige noch am Leben, kann sich traumatisch erinnern, zu welchen Massnahmen die Welt greifen musste, um die Mehrheit der Deutschen zur Vernunft zu bringen. Nun werden kleine Teile der deutschen Bevölkerung erneut traumatisiert: von Wetterkatastrophen. Wie nachhaltig wird das wirken? Zweifel sind angebracht, wie die deutsche Patentpolitik zu Corona-Impfstoffen – leider sehr nachhaltig – vor Augen führt.
Der unübersehbare Herr Altmaier ist sich in einer ebenfalls unübersehbaren Schmutz-und-Schund-Zeitung ganz sicher, dass es keinen weiteren Lockdown geben werde. Wie schön für ihn. Muss er nicht mehr zuhause kochen. Zwei Ministerpräsidentinnen, nicht die Dümmsten, fordern, dass statt der 7-Tage-Inzidenz Daten zur Krankenhaus- und Intensivstationsbelegung an Bedeutung gewinnen müssen. Eine gute Idee. Warum hatten sie die vor einem Jahr noch nicht?
In der FAZ erschien ein Bericht der von mir geschätzten Korrespondentin Frauke Steffens zur Infektionslage in den USA. Bemerkenswert: in New York ist die 7-Tage-Inzidenz dreimal so hoch wie in Bonn (@Michael Kleff). Auch in ihrem Bericht geht es mehr um die Daten, auf die Dreyer und Schwesig hinweisen wollen. Der Hammer in Steffens’ Bericht ist jedoch die von ihrer Redaktion eingefügte Weltkarte zum Stand der globalen “Impfkampagne” – ein schönfärberischer Begriff. Es ist ein Desaster.
Einige meinen ja, der US-Präsident habe sich nur einen schlanken PR-Fuss gemacht. Politische Tatsache ist: die Entscheidung liegt hier, in Deutschland. Mehr in der Hauptstadt da hinten, als hier im katastrophengeplagten Westen.
Wenn es nur um Sachargumente ginge, wäre die Frage schon geklärt. Joseph E. Stiglitz gab der Bundesregierung im DLF eine öffentliche Nachhilfe-Halbestunde. Stiglitz begreift nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Zusammenhänge so präzise, wie es nur geht.
Es geht jedoch nicht um Argumente, sondern um Interessen. Vor drohenden Katastrophen im Kapitalismus sinkt die Neigung zu Kompromissen, gar zum Nachgeben. Da reagiert der pharmakologisch-industrielle Komplex absolut systemadäquat. Die Beteiligten wissen, dass es so nicht mehr weitergeht, sie die letzten Kapitalfrüchte nur noch jetzt ernten können, weil es ein morgen und übermorgen nicht geben wird.
Wer bestimmt nun? Dieser Komplex oder demokratisch legitimierte Politik?
“Wir”, unsere Regierung in Berlin übernimmt freiwillig die Verantwortung für sich ausbreitende Mutationen, die – niemand weiss genau wann und welche – wechselnde Ansteckungswirkung, Todesgefahr und Resistenzen gegen bestehende Impfungen mitbringen können. Und werden. Merkel, Altmaier, Laschet und Co. (zu Co. gehört übrigens auch der “sozialdemokratische” Aussenminister) sind da ganz schmerzfrei. Sie glauben fest, dass sie, bis es so weit ist, in Rente und also “unschuldig” sein werden. Das ist die Prä-Katastrophenpolitik unserer Tage. Wie wird die Welt es Deutschland diesmal wohl danken?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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