1948 wurden die Vereinten Nationen gegründet, um nach Holocaust und 60 Mio. Toten des 2. Weltkriegs eine Institution zu schaffen, die verhindert, dass sich eine solche Menschheitstragödie wiederholen könne. Seitdem gab es viele Krisen, in denen UN-Blauhelme, UN-Kampftruppen oder gar internationale Einsätze unter UN-Mandat eingegriffen haben, in einigen Fällen waren diese Einsätze erfolgreich. Es gibt einen UN-Sicherheitsrat, in dem die Atommächte und ein paar andere Mitglieder sitzen, der mehr schlecht als recht, aber überhaupt funktioniert, sodass es bisher noch nicht zur atomaren Vernichtung des Planeten gekommen ist. In Afghanistan hat internationale Politik völlig versagt. Und setzt dieses Versagen zulasten einer drohenden humanitären Katastrophe weiter fort.
Auf die Schwierigkeiten der von vornherein gemessen am Anspruch unmöglichen Aufgabe, die islamistischen Taliban zu vertreiben und Menschenrechte zu sichern sowie das Land zu entwickeln, ist hier bereits eingegangen worden. Die Frage muss aber darüber hinaus gestellt werden, wieso eine “internationale Gemeinschaft”, die in Wirklichkeit keine ist, die jedoch die Zustände in Afghanistan kannte, derart kopflos agieren konnte. Hierzu ein paar Gedanken zu Ursachen, Gründen und Verantwortlichkeiten.
- Der Abzug der US-Truppen wurde eingeleitet durch den außenpolitischen Vollidioten Donald Trump, der allein an seiner Wiederwahl interessiert war und dafür den Abzug brauchte. Er “verhandelte” in Katar, das verdächtig ist, Islamisten zu finanzieren, ein “Abkommen” mit den Taliban, das diesen Namen nicht einmal verdient. Die terroristischen Taliban verpflichteten sich zu nichts anderem, als dem Terrorismus abzuschwören und konnten seitdem ungehindert weiterbomben und -morden. Es war, als ob Mafia oder ‘Ndrangetha einen Zettel unterschrieben, keine organisierte Kriminalität mehr zu sein. Mit entsprechendem Ergebnis.
- Die restlichen Nationen des ISAF-Bündnisses folgten den Amis, offensichtlich ohne sich eigene politische Gedanken zu machen, obwohl sie aufgrund der jahrzehntelangen Präsenz genau wie die USA wissen mussten, was jetzt gerade mit der korrupten afghanischen Regierung geschieht.
- Alle machten sich Illusionen darüber, – oder schlimmer, sie schürten sie wider besseres Wissen – dass es in der mit viel gutem Geld und Waffen ausgestatteten afghanischen Armee Widerstand gegen die Taliban geben werde, während USA und NATO-Partner das Hasenpanier ergriffen. Die Bilder gleichen täglich der peinlichen Flucht der USA aus Vietnam ein Stück mehr.
- Niemand kam offensichtlich auf die Idee, dem skandalösen Trump-Plan wenigstens den Versuch entgegenzusetzen, eine politische Lösung für Afghanistan zu finden, die nicht ein islamistisches Kalifat, hunderttausende Massenmorde durch die Taliban, etwa 1-2 Mio. Flüchtlinge und eine Zerstörung sämtlicher in den letzten 20 Jahren unterstützter Ansätze und Projekte, vor allem zugunsten von Frauenrechten zu vermeiden oder abzumildern.
Was wären die Alternativen? Bestimmt keine erneute Intervention von Truppen, wie sie der Abenteurer Norbert Röttgen fordert. Natürlich wäre ein klassischer Blauhelmeinsatz der UNO zu erwägen gewesen, zumindest um den Raum und die Zeit für weitere Verhandlungen zu schaffen – aber den hätte Donald Trump bei seinen skandalösen Fluchtverhandlungen ins Spiel bringen müssen. Dass er das nicht getan hat, beweist zum wiederholten Mal die Allgemeingefährlichkeit und Verantwortungslosigkeit seiner Politik. Spätestens mit der Verkündung von Joe Bidens Abzugskalender musste der EU, zumindest Deutschland und Frankreich klar sein, was nun passiert.
Könnte eine neue diplomatische Konstellation etwas ausrichten?
Die NATO hat sich zweifelsohne blamiert. Diese Blamage wird um so größer, als die Politik gegenüber Afghanistan erlischt, wie derzeit. Denn natürlich gibt es Staaten, die Interessen an einem stabilen Afghanistan haben müssen, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Pakistan sowie der Iran als direkt angrenzende Länder. Aber auch China, Indien und Russland, in deren direkten Einflußsphären Afghanistan liegt und auch die Türkei. Diese Staaten haben allesamt Sicherheitsinteressen und wirtschaftliche Interessen. So gab es bis 2006 Pläne für eine Pipeline turkmenischen Erdgases nach Pakistan, die aufgrund der Sicherheitslage seitdem auf Eis liegen. Wer hätte die Möglichkeit, diese Akteure zu einer Afghanistan-Konferenz zusammenzubringen? Zumindest Angela Merkel und Emmanuel Macron haben sicher von allen beteiligten Regierungsspitzen die Telefonnummern in ihrem Notizbuch. Und ebenso UN-Generalsekretär António Guterres. Hans-Dietrich Genscher hätte in der aktuellen Situation schon Telefondrähte zum Glühen gebracht – Ministerlein Maas kommen solche Ideen vor lauter US-Fixierung erst gar nicht.
Europa ist durch Flüchtlinge direkt betroffen
Angesichts des außenpolitischen Desasters der USA zumindest einen Versuch zu unternehmen, so etwas wie Post-ISAF-Verantwortung für die betroffenen Menschen vor Ort zu organisieren, liegt im ureigendsten Interesse Europas. Zu glauben, durch die üblichen Flüchtlingsdeals mit dem Despoten Erdogan und eine Verfolgung von Schleppern das Problem bewältigen zu können, ist eine Illusion. Die USA können sich Flucht leisten. Europa dagegen muss zumindest versuchen, eine diplomatische Lösung herbeizuführen, um die massenhafte Vernichtung von Menschenleben und völlige Islamisierung Afghanistans abzumildern, hinauszuzögern oder gar zu vermeiden.
Die Taliban sind ja nicht völlig verrückt, ließen sogar schon anfragen, ob die EU-Entwicklungsgelder weiterlaufen könnten. Der pakistanische Geheimdienst spielt eine zentrale Rolle bei ihrer Unterstützung, sie profitieren auch von der Unterstützung islamistischen Terrorismus durch Golfstaaten wie Saudi-Arabien und Katar. Schon einmal, 2001, hat der Iran deutlich gemacht, keinerlei Interesse an den Aktivitäten dieser Spielart sunnitischen Terrorismus zu haben und Flüchtlinge setzen die Regierung unter Druck. Die Reaktivierung des Iran-Atomabkommens stockt derzeit – gute Anlässe, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen und eine Neupositionierung der diplomatischen Beziehungen zu eruieren. Auch Russland kann historisch keinerlei Interesse an einem von Taliban beherrschten Hindukusch haben. Auch hier bietet die aktuelle Lage Anknüpfungspunkte für Gespräche, um in der politischen Zusammenarbeit Vertrauen zurück zu gewinnen.
Nicht nur Merkel und Maas stehen sich selbst im Weg: obwohl eine solche Konstellation unter anderem Vertrauensbildend auch hinsichtlich des Verhältnisses zum Iran und Russlands wirken könnte, verbieten sich die Strategen im Auswärtigen Amt solche entspannungspolitischen Schachzüge aus ideologischen Gründen, um den Schulterschluss mit den USA beim Putin-Bashing und China-Mobbing nicht zu gefährden. Für die EU, deren existenzielles Interesse in einer Befriedung des Afghanistan-Konflikts liegt, um Migration hunderttausender Afghan*innen zu vermeiden, besteht Handlungsbedarf. Wenn sie sich – wie sich schon gegen jede humanistische Verpflichtung des Völkerrechts andeutet – auch 2021 wieder weigern werden, der Genfer Konvention zur Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen nachzukommen, drohen eine Situation wie 2015 und ein weiteres Anwachsen des Neofaschismus.
Ein Wahlkampfthema, das polarisieren wird
Die Reaktion von CDU/CSU und SPD auf die Forderung der Grünen, ein Bündnis der aufnahmewilligen Staaten der EU zu schaffen, bevor es zu einer Krise wie 2015 kommt, ist kurzsichtig und spricht Bände. Seehofer und Co. haben nichts gelernt. Maas ist zu kleines Karo, um überhaupt Ideen und Initiativen zu entwickeln und Angela Merkel scheint keine Lust mehr zu haben, sich zu exponieren, ist eine “Lame Duck”. So kann es sein, dass der Bundestagswahlkampf ein neues Thema bekommt, früher, als manchen Parteioberen lieb ist. Mit “weiter so” wird das nicht zu lösen sein. Nicht nur der Klimawandel fordert eine tiefgreifende, grundsätzliche Veränderung. Es braucht auch eine neue Aussenpolitik. Schwarz und Rot haben da derzeit nichts anzubieten, als den Kopf in den Sand zu stecken und den USA zu folgen, so falsch deren Politik auch sein mag. Aber auch die Grünen müssen ihr Putin-Bashing überwinden und lernen, dass der Versuch der Rettung von Menschenleben und -Rechten bedeuten kann, sich mit Leuten an einen Tisch zu setzen, die das Gegenteil von Demokraten sind, denn unter den an Afghanistan grenzenden Ländern gibt es nur solche. Die bevorstehende Bundestagswahl macht Deutschland bis zur Regierungsbildung praktisch handlungsunfähig. Und die Zeit drängt.
Ergänzung 15.08. um 20.25 Uhr: Andere haben schon reagiert: China hat bereits vor Tagen eine Taliban-Delegation empfangen und Russland erklärt, seine Botschaft vorerst nicht zu räumen. Norbert Röttgen leugnet seine Forderung nach militärischem Eingreifen und jammert auf jedem Sender herum, während AKK und Maas nicht erreichbar sind. Die Rettung von Journalist*innen, vor allem aber der in einem privat organisierten Safe-House versteckten Ortkräfte der Bundeswehr in Kabul sind völlig offen. Angeblich soll sie über einen Drittstaat organisiert werden. Chaostage in Berlin.
Volle Zustimmung.
Der Fehler war nicht der Abzug der USA und ihrer NATO-Hilfstruppen, sondern diesen Krieg überhaupt begonnen zu haben.
Die komplizierten Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung Afghanistans lassen sich nicht mit militärischen Mitteln lösen. Daran sind schon die Sowjets gescheitert und davor die Engländer. Wieder einmal ist der Versuch des Exports von Demokratie und Menschenrechten krachend gescheitert. Libyen, Syrien, Irak lassen grüßen. Nur weil man über einen Hammer verfügt, ist nicht jedes Problem ein Nagel.
Und eine weitere traurige und unangenehme Wahrheit ist, die viele in Deutschland nicht wahrhaben wollen, dass wir, also Deutschland und die europäischen Partner in der NATO, nicht ohne die USA für unsere Sicherheit sorgen können. Auf die USA ist – Trump hin, Biden her – kein Verlass mehr. Und allein mit Entwicklungshilfe wird der Steinzeit-Islam der Taliban und vor Al Quaida nicht zurück gedrängt oder eingehegt werden können. Es werden unangenehme Fragen auf die deutsche Gesellschaft zukommen – und die Antworten werden noch unangenehmer und ziemlich teuer. 2 % des BIP für die Sicherheit Deutschlands und Europas werden wohl kaum ausreichen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung des deutschen Illusionstheaters. Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität, nicht wahr?
Ist nicht in Wahrheit die Illusion, dass Militär und Aufrüstung für “unsere Sicherheit” sorgen? Nach meinem Empfinden erzeugen sie erst die Unsicherheit, um dann gerufen zu werden. Ein gut geöltes Geschäft. Das mich stark verunsichert. Und viele, denen es ähnlich geht. Schon dem republikanischen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower ging es so.
https://www.nzz.ch/eisenhowers_warnung_vor_einem_staat_im_staat-1.9130929
Und Marlene Dietrich:
https://www.youtube.com/watch?v=aLAxbQxyJSQ
Ja, wann?
Der Originaltext von Eisenhower ist noch vielschichtiger:
https://avalon.law.yale.edu/20th_century/eisenhower001.asp
Aber wenn von 145 Kampfhubschraubern nur 17 funktionieren, wird AKK schwerlich die Ortskräfte in Kabul heraushauen können. Es widerstrebt mir, der Aufrüstung das Wort zu reden, aber die EU wird sich Gedanken über eine Zusammenarbeit machen müssen, wie sie mal mit der EVG angedacht wurde, um sich von den USA unabhängig zu machen.
Dass in der Afghanstan-Politik Vernunft nicht vorkam, das war lange bekannt.
Doch dass der letzt Rest so schnell vergeht, das hätte niemand gedacht.
Die NATO muss sich eingestehen diesen Krieg verloren zu haben. Wer in fremden Ländern Menschenrechte durchsetzen will darf das Primat nicht beim Militär setzen. Der zivile Aufbau war anscheinend nur eine Fassade die nach dem Abzug der Militärs zusammen gefallen ist – und das viel schneller als alle erwartet haben.
Die Politik der Bundesregierung mit dem Ministerchen (Schöner Begriff!) und bürokratischen deutschen Hürden (Einreise nur mit Reisepass aus Kabul) sind ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Herrn Seehofer sollte man zu seinem nächsten Geburtstag 70 Grabsteine vor die Tür legen. Hat er nicht bestellt aber verdient.
Wenn wir als Westen zusammen mit den angrenzenden Ländern auf eine politische Lösung gedrängt hätten wäre vielleicht auch eine Spaltung des Landes denkbar gewesen. Neben dem “Gottesstaat” hätte eine weltoffenes Afghanistan mit einem wirtschaftlichen Aufbau und den Freiheiten auf Dauer gewonnen.
Jetzt bleibt aus meiner Sicht nur die humanitäre Hilfe und die politische und wirtschaftliche Isolation. Spannend wird an der Stelle der Umgang mit Katar und Saudi-Arabien. Dort gibt es aber jetzt zumindest eine Frauennationalelf im Fußball.
Weitere Texte zu Afghanistan sind entbehrlich, soweit dort zu Opium und Geldwäsche nichts vorkommt.