Wie konnte es nur so weit kommen? Nach 20 Jahren ist so eine Frage verräterisch. Ist, wer so fragt, einfach zu dumm? Oder besonders verlogen? In Deutschland stimmen Regierung und Medien – mal wieder – in der vorgeblich entsetzten Überraschung über das Geschehen in Afghanistan, das im übrigen all die 20 Jahre so mörderisch war, wie es gegenwärtig ist, überein (und fragen Sie mal die Russen!). Michael Maier/Berliner Zeitung (die Redaktion ist fortgesetzt mit digitalem Mauerbau beschäftigt, gegenwärtig ist der Text noch frei zugänglich) fasst den Stand öffentlicher Erkenntnisse notdürftig zusammen. René Martens/MDR-Altpapier zeichnet die merkwürdigen Regierungs- und Medienreaktionen nach.
Ich glaube nicht, dass Gerhard Schröder und Joseph Fischer 2001 wirklich so doof waren zu glauben, Afghanistans Islamismus- und Djihadismus-Probleme ausgerechnet mit der Bundeswehr lösen zu können. Ihr Interesse war, wie schon 1999 bei der völkerrechtlich noch weit illegaleren Teilnahme am Jugoslawien-Krieg, im Wettbewerb der Weltmächte die Champions-League-Qualifikation zu retten. Bei einem Ausscheiden hätten sie auch bei allem anderen, was global wichtig ist, nicht mehr mitreden können (befürchteten sie). Dieses Interesse beherrscht bis heute das entsprechende Handeln aller Bundesregierungen. Das Land Afghanistan und die Lebenswirklichkeit seiner Menschen, spielt dabei eine Nebenrolle – bei viel Glück und “Erfolg”. Realistisch eher: gar keine.
Der vorherrschende Dilettantismus der Politik unserer Tage legt das nun, nach 20 Jahren, weltweit sichtbar offen. Das wäre Schröder und Fischer so nicht passiert. Kohl und Genscher sowieso nicht.
Denn seit dem 1974 ähnlich schmählich verlorenen Vietnamkrieg war die Lehre der mächtigen Verlierer: nie wieder die Kontrolle über die Bilder abgegeben. Wenn Sie sich die vielen Stunden Zeit nehmen, diese Mehrteiler-Doku von Ken Burns und Lynn Novick anzusehen, dann wissen Sie sehr endgültig, wie mörderisch brutal Kriegswirklichkeit ist. Solche Bilder werden von allen Kriegführenden unserer Tage professionell verhindert. Der “Embedded Journalism” wurde erfunden. Medien nur als Gefolge militärische Kommandostruktur, niemals unabhängig. Unabhängiger Journalismus = Lebensgefahr! Wer traut sich das?
Spätestens seit Vietnam ist ausserdem weltweit bekannt, dass militärische Kommandostrukturen ungeeignet sind, ein fremdes Land, seine sozialen und kulturellen Systeme kennen- und verstehen zu lernen. Militär ist keine Demokratie-Schule, kein Medium des Exports von irgendwas Gutem, und seien es “Menschenrechte”, sondern Mord, Gewalt (gerne auch: “sexuelle”), Traumatisierung, fremde Invasion. Für Frauenemanzipation, Schulbau und Brunnenbohren ist Militär weder qualifiziert noch “zuständig”.
Im Gebiet des heutigen Deutschland ist das alles seit 1648 bekannt. Die Antwort auf Marlene Dietrichs berechtigte Fragen lautet: man wird erst “verstehn”, wenn undemokratische Herrschaft in Politik und Medien überwunden und demokratisiert ist.
In Deutschland kann das dauern. Aber Selbstmitleid ist nicht angebracht. Im Export von Elend sind “wir” Weltmeister. Und René Martens beschreibt, wie deutsches TV internationale Wirklichkeit zugunsten von Zweitliga(!)-Fussball verklappen will. Auf dass Deutsche sich noch öfter über die Welt entsetzen und wundern mögen. Medien als Mauerbauer, mit dem Springer-Konzern als Rudelführer. Nichts lernen, nicht aus Geschichte, noch weniger aus Gegenwart.
1972 liess nachdenkseiten-Herausgeber Albrecht Müller das Land für die SPD plakatieren: “DEUTSCHE Wir können stolz sein auf unser Land.” Wer würde das heute wagen?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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