von Roberto Frankenthal
In der Covid-Pandemie – Die argentinischen Parlamentswahlen im November

Am 14. November gab es in Argentinien Parlamentswahlen, bei denen die (links-)peronistische Regierung von Alberto Fernandez ihre bisherige Mehrheit im Senat und im Abgeordnetenhaus verteidigen musste. Doch die durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärften sozialen Verwerfungen führten zu großer Frustration in der Bevölkerung, insbesondere bei den sozial Schwächeren, der traditionellen Basis des Peronismus. Die Ergebnisse der Vorwahlen im September und die Wahlprognosen ließen eine schwere Niederlage für die Regierungskoalition erwarten. So schlimm kam es für die Peronisten nicht, ihre Verluste blieben im Rahmen.

Die nächsten und letzten zwei Jahre seiner Amtszeit werden für Argentiniens Präsidenten Alberto Fernandez nicht einfach werden. Zu dieser Erkenntnis wird er sicher am Abend des 12. September gekommen sein, als die Ergebnisse der PASO, der parteiinternen Vorwahlen, bekannt wurden. Die im Oktober 2019 geschmiedete Koalition Frente de Todos (FdT) erhielt bei den PASO-Wahlen im September 2021 etwa vier Millionen Stimmen weniger als bei den Wahlen vor zwei Jahren. Diese Verluste kamen aber nicht der konservativen Oppositionskoalition Juntos por el Cambio (JpC) zugute, die im Vergleich zu 2019 ebenfalls Stimmen verlor. Wenn man als Grundlage das argentinische Wählerverzeichnis nimmt, wurden die Nichtwähler*innen mit 34 Prozent der Stimmen stärkste „Partei“. An zweiter Stelle lag die JpC mit 25 Prozent und nur Dritte wurde die regierende FdT mit 19 Prozent der Stimmen. Rund neun Prozent gingen an linke und ultraliberale Parteien. Weitere zehn Prozent der Wähler*innen entschieden sich für kleinere Parteien oder die Abgabe leerer Stimmzettel. Nur in sieben der 24 Provinzen war die Regierungskoalition erfolgreicher als die Opposition.
Die Gründe dafür waren vielfältig. Der Erfolg der FdT-Koalition bei den Nationalwahlen im Oktober 2019 war eher durch die Unfähigkeit des Amtsvorgängers Mauricio Macri bestimmt als durch den Wunsch einer politisch-ideologischen Veränderung. Die FdT hatte damals erreicht, dass alle Strömungen des Peronismus, die 2015 noch gegeneinander angetreten waren (und so den Wahlgewinn der Konservativen von Cambiemos ermöglicht hatten), eine gemeinsame Koalition bildeten, die 48 Prozent der Stimmen an sich binden konnte. Die Erwartungen der Wähler*innen gingen dahin, der Mehrheit der Bevölkerung einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen als in Macris Regierungszeit 2015-2019. Aber bereits nach nur 100 Tagen Amtszeit der neuen Regierung brach die Covid-Pandemie aus.
40% unter der Armutsgrenze
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Argentinien schon seit drei Jahren in einer tiefen Rezession. Trotz dieser miserablen Ausgangslage zögerte die Fernandez-Regierung nicht, als es zu Beginn der Pandemie darum ging, die gesundheitlichen und sozialen Folgen dieser Katastrophe so gut wie möglich zu lindern. Von der Macri-Regierung stillgelegte Krankenhausbauten wurden in Windeseile fertiggestellt, die Herstellung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten im Lande angestoßen. Dennoch sind knapp über 100000 Todesfälle seit Ausbruch der Pandemie zu beklagen, bei einer etwas mehr als halb so großen Bevölkerung wie in Deutschland. Sozial wurde der Lockdown durch Direktzuwendungen an Arbeitnehmer*innen und die Verstärkung der vorhandenen Sozialhilfemaßnahmen abgefedert. Für die Unternehmen wurden ein Kurzarbeitssystem und ein vorübergehendes Verbot betriebsbedingter Kündigungen verfügt.
Als im Frühjahr 2021 die argentinische Impfkampagne begann, wurden viele der Hilfs- und Sozialmaßnahmen eingestellt. Die Industrie überlebte diese Zeit allerdings ohne besondere Probleme. Sie produziert seit Mai/Juni 2021 mehr als im Vergleichsjahr 2019 (allerdings ein eher schlechtes Jahr für die Produktion). Die makroökonomische Erholung der letzten sechs Monate hat aber bisher die ärmeren Schichten der Bevölkerung nicht erreicht, und Anfang September 2021 lebten 40 Prozent der argentinischen Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze. Viele Beobachter*innen wundern sich, dass es trotz dieser besorgniserregenden Lage noch nicht zu Volksaufständen kam wie 2001. Gerade von einer peronistischen Regierung wird eine aktive Sozialpolitik erwartet, oder wie es der ihr nahestehende Schriftsteller und Journalist José Pablo Feinmann in einer seiner Kolumnen in der Tageszeitung Pagina 12 formulierte: „In peronistischen Zeiten darf die Bevölkerung nicht hungern.“
Impfung als “kommunistische Unterwanderung”
Zu all diesen Problemen gesellte sich eine Opposition, die nach einem anfänglichen Schulterschluss mit der Regierung zu Beginn der Pandemie aus allen Rohren feuerte und alle Entscheidungen der Regierung bekämpfte. Während in anderen Staaten die Fundamentalopposition gegen die Massenimpfung der Bevölkerung von Randgruppen des politischen Spektrums getragen wurde, stand in Argentinien die Parteivorsitzende von PRO (die wichtigste Partei der oppositionellen Koalition JpC), Patricia Bullrich, in der ersten Reihe der Impfgegner*innen. Als sich Argentinien dann die Lieferung von Sputnik-Impfstoffen russischer Herstellung sicherte, weil zu dem Zeitpunkt keine anderen Vakzine auf dem Weltmarkt angeboten wurden, wurde diese Maßnahme als „kommunistische Unterwanderung“ gebrandmarkt. Der Vorsitzende der JpC-Fraktion kritisierte während einer Debatte im Parlament über den Kauf von Pfizer-Biontech-Impfdosen, dass die argentinische Regierung auf der Einhaltung argentinischer Gesetze bestand, die im Widerspruch zu den Forderungen des deutsch-US-amerikanischen Pharmagiganten stehen (über dessen teilweise skandalösen Vertragsauflagen berichtete kürzlich die Wochenzeitung Zürich.). Die Mehrheit der argentinischen Massenmedien steht auch aufseiten der Opposition und multipliziert zum Teil Fake News, die gegen die Regierungsarbeit lanciert werden.
118:116
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage konnte die Regierungskoalition bei den Parlamentswahlen vom 14. November das Schlimmste verhindern. Sie erreichte erstens eine höhere Wahlbeteiligung und zweitens Stimmengewinne gegenüber den Vorwahlen vom 12. September. In der zukünftigen Abgeordnetenkammer hat die Regierungskoalition 118 Sitze, die oppositionelle JpC 116. Zusammen mit einigen Provinzparteien kann die regierende FdT Mehrheiten bei Abstimmungen erreichen. Im Senat hat sie 35 der 72 Sitze, die Opposition 31. Zum ersten Mal seit der Wiederherstellung der Demokratie haben die Peronisten keine eigene Mehrheit im Senat. Sowohl im Senat auf Bundesebene als auch in dem der Provinz Buenos Aires werden die Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und die Vizegouverneurin der Provinz Buenos Aires, Verónica Magario, die Möglichkeit haben, bei Pattsituationen zugunsten der Regierung zu stimmen, denn sie sind gleichzeitig neben ihren Exekutivmandaten auch die Präsidentinnen der jeweiligen Kammern.
In der Provinz Buenos Aires, der größten des Landes, konnte sich die oppositionelle JpC-Koalition gegenüber 2019 verbessern, allerdings verlor sie in den peronistischen Hochburgen im Großraum Buenos Aires, wo die Mehrheit der Bevölkerung der Provinz lebt. Konsolidiert hat sich ihr Vorsprung in Córdoba, Santa Fe, Mendoza und Entre Ríos. In den Provinzen Neuquén und Río Negro setzten sich Provinzparteien durch. Achtungserfolge erreichten die angeblich libertären, aber eher faschistisch angehauchten Kandidaten Javier Milei (den die ARD-Tagesschau als „Rechtspopulist und Anarchokapitalist“ titulierte) und José Luis Espert in der argentinischen Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Die linke Koalition FIT (Frente de Izquierda y de los Trabajadores) konnte die Zahl ihrer Abgeordneten im Parlament von zwei auf vier verdoppeln und erreichte in der nordargentinischen Provinz Jujuy sogar mehr als 25 Prozent der abgegebenen Stimmen.
IWF regiert mit
In 2023 wird ein neuer Präsident gewählt. Während bei der regierenden FdT diese Frage noch nicht mal erwähnt wird, entbrannte bei der oppositionellen JpC bereits der Vorwahlkampf um das höchste Regierungsamt. Der amtierende Gouverneur der Stadt Buenos Aires und die frühere Gouverneurin der Provinz Buenos Aires (und jetzt frisch gewählte Abgeordnete für die Hauptstadt) Maria Eugenia Vidal glauben, die größeren Chancen auf das Amt zu haben. Nicht zu vernachlässigen sind aber die Ambitionen des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri, erneut anzutreten (und dadurch von gerichtlicher Verfolgung in mehreren Fällen verschont zu werden). Auch die Parteivorsitzende der PRO, Patricia Bullrich, liebäugelt mit dem Platz im Präsidentenpalast. und mehrere Kandidaten der UCR (bisher nur Juniorpartner bei der Koalition JpC) erheben ebenfalls den Anspruch, ganz oben mitmischen zu wollen.
Die Regierungskoalition wird erst an Wahlen denken, wenn sie zwei große Probleme aus dem Weg geräumt hat. Sie muss früher oder später Umverteilungen vornehmen, ansonsten werden sich die sozialen Verhältnisse noch mehr verschlechtern und Zukunftschancen verspielt. Andererseits muss sie den Spagat vollbringen, für Wachstum zu sorgen und gleichzeitig die Gläubiger des IWF zufriedenzustellen. Alle bisherigen Appelle, für die Darlehen, die die Macri-Regierung im Juni 2018 vom IWF erhielt, Zinskürzungen oder Fristverlängerungen zu erreichen, wurden vom IWF abgelehnt. Wirtschaftsminister Guzmán, der in der Fernández-Regierung nicht mehr unumstritten ist, hat eine schwere Aufgabe vor sich.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 451 Dez. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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