NATO-Gipfel, EU-Treffen – glaubt man den Aktivitäten in Brüssel und anderswo, steht Europa kurz vor einem Einmarsch der ehemaligen Sowjetunion in der Ukraine. Die baltischen Staaten werden nicht müde, am lautesten nach Sanktionen und unter diesen allen voran nach einer Stilllegung von Northstream 2 zu rufen. Für den Fall eines Einmarsches oder “totalen Krieges” (Selenskyj) droht die EU schärfste Sanktionen an, – die schwerste Waffe scheint derzeit der Ausschluss Russlands vom SWIFT-Finanztransfer zu sein.
SWIFT als Wunderwaffe?
Was würde das bedeuten? BMW, Daimler und Audi könnten ihre schweren Limousinen und SUVs nicht mehr in Russland verkaufen, weil die Überweisungen nicht mehr funktionierten, Oligarchenmatkas könnten in München, Berlin und Köln nicht mehr ihr Shopping mit Kreditkarte bezahlen – und natürlich würden jede Menge mittelständischer Unternehmen im Osthandel Verluste erleiden oder gar in Insolvenz geraten. Der illegale Handel – Waffen, Drogen, Prostitution, Wirtschaftsspionage und Hehlerware – würden erblühen, denn die zahlen mit Bargeld. Die Idee ist mehr als fragwürdig. Viel größer jedoch ist doch die Gefahr, dass der Konflikt sich weiter hochschaukelt, außer Kontrolle gerät. Nach über 70 Jahren Frieden im Mitteleuropa haben die verbalen Colts in Ost und West lange nicht so locker gesessen, wie vor Weihnachten 2021. Es stellt sich aber auch die Frage, wieso Wladimir Putin eine solche Eskalation in Kauf nimmt, die ihn diplomatisch, ökonomisch und handelspolitisch teuer zu stehen kommen kann. Gleichzeitig muss doch jedem vernünftigen Menschen die Erkenntnis dämmern, dass die Welt ernsthaft ganz andere, nämlich existenzielle Probleme hat.
Ideologischen Ballast abwerfen
Lässt man den neuesten ideologischen Überbau, die angeblich “werteorientierte” Außenpolitik beiseite – wie kann man Freiheit für Nawalny fordern und gleichzeitig die Auslieferung Julian Assanges an die USA zulassen? – und reduziert auch das russische ideologische Geschwafel auf seinen Kern, kommt eine konkrete Hauptforderung heraus: Putin will einen Verzicht auf eine weitere NATO-Osterweiterung durch die Aufnahme von Georgien und die Ukraine erzwingen und er will eine wie auch immer geARTEte Schutzgarantie für Belarus. Ob das langfristig die Diktatur Lukaschenkos einschließt, ist noch verhandelbar. Und er fordert Garantien – welcher Art auch immer – für einen Zugang zum Schwarzen Meer und damit zum Mittelmeer – für die russische Flotte auf der Krim, also eine dauerhafte Präsenz Russlands in Donbass und auf der Krim. EU und NATO wiederum wollen legitimerweise Sicherheit und Garantien für die baltischen Staaten, Polen sowie die anderen, an Russland grenzenden Mitgliedsstaaten. Und sie fordern Raum für demokratische Selbstbestimmung und Entwicklung in der Ukraine und in Georgien und streben das auch in Belarus an.
Klare Sicherheitsinteressen
Alles in allem sind das auf beiden Seiten ziemlich rationale Sicherheitsinteressen, die natürlich nicht von den politischen Einflusssphären zu trennen sind. Russland will Stabilität in Belarus und verspricht sich das am ehesten von Lukaschenko – obwohl uns das nicht gefällt. Die EU spielt seit den Vorgängen auf dem Maidan, die einem Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten gleichkamen, mit dem Gedanken der Osterweiterung der NATO und führt gemeinsame Manöver mit der Ukraine und Georgien durch, über die Russland nicht amüsiert ist. Ist es so schwer zu begreifen, dass Russland für den Fall, dass seine Marionette Lukaschenko durch eine demokratisch gewählte Regierung ersetzt würde, sofort wieder damit rechnen muss, dass auch eine solche Regierung sich ebenfalls gegen Russland mit NATO-Kooperation oder gar Mitgliedschaft wenden würde?
Entfremdung seit den 90ern
Aus der Perspektive Russlands gibt es seit etwa Mitte der 90er Jahre ein Vorrücken der NATO bis an die Grenzen Russlands und das Nachrücken von Waffensystemen. Der Westen hat nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion seinen Einflussbereich zweifellos nach Osten ausgedehnt. Davon war nicht die Rede, als Gorbatschow in den 2+4 Verhandlungen der Vereinigung Deutschlands und seiner NATO-Mitgliedschaft zustimmte. Im Gegenteil: Auf die Angebote Russlands zu einer engeren Kooperation und Partnerschaft in Wladimir Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2001 folgte keine positive Reaktion. Im Gegenteil: Als nach der eher putschartigen Entwicklung in der Ukraine nach den Vorgängen auf dem Maidan, die zum Rücktritt des demokratisch gewählten Präsidenten führte, die Annäherung der Ukraine an EU und NATO immer enger wurde, befürchtete die Führung im Kreml offensichtlich, dass die Krim, einziger eisfreier Stützpunkt der russischen Flotte weltweit, unter die Kontrolle der NATO gelangen könne und zettelte den bekannte Besetzung der Ostukraine an. Was der Westen aus seiner Sicht zurecht als Bruch des Völkerrechts bezeichnet, interpretiert der Kreml eher als eine Art Akt der Selbstverteidigung. Und wer einmal auf Wikipedia nachliest, welche Oligarchen der Ukraine während Hillary Clintons Außenminister*innen*zeit an die Clinton-Stiftung Millionen gespendet haben, kann solche Wahrnehmung sogar nachvollziehen. Seitdem verharren beide Seiten in einer Art kontrollierter Eiszeit.
Sanktionen in der Sackgasse
Die Sanktionen des Westens haben bisher nicht zum Rückzug Russlands geführt, die Reduzierung der Weltgipfel von G8 auf G7 hat der internationalen Wirtschaft und der Umwelt mehr geschadet als genutzt. Sie gipfelt im aktuellen Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze. Es ist an der Zeit, diese fatale Logik zu durchbrechen. Aber gibt es einen realistischen Weg dorthin? Von einem Neuanfang ehrlicher Entspannungspolitik in Europa können alle Seiten nur profitieren. Die bisherige Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland hat sich als weitgehend wirkungslos, kontraproduktiv und ineffizient – viel schlimmer: spannungsverstärkend erwiesen. Die ständigen asymmetrischen digitalen und medialen Aktivitäten des Ostens zur Destabilisierung der Demokratien im Westen sind für beide Seiten teuer, ineffizient, so disruptiv wie sinnlos und Vertrauen zerstörend. Weitere militärische Drohungen Russlands gegenüber der Ukraine sind äußerst kostspielig, die angedrohten Sanktionen für beide Seiten ein ökonomisches Desaster. Eine echte loose/loose Situation.
Bewaffnete Konflikte sind ein Klimadesaster
Angesichts des Klimawandels und der in den nächsten Jahrzehnten absehbaren Probleme Europas und Asiens z.B. mit dem Auftauen der Permafrostböden Sibiriens und massiven Methan- und CO2-Immissionen erscheinen die forcierten Rüstungsanstrengungen beider Seiten als purer Wahnsinn. Nicht nur, weil die damit einhergehende Entwicklung von Hyperschallwaffen dasselbe brandgefährliche Problem schafft, wie einst die Stationierung von SS20 und Pershing II: eine tödliche Verkürzung der nuklearen Vorwarnzeit von über 20 auf unter 5 Minuten mit möglicherweise weltvernichtendem Ausgang. Sie führt zudem zur Verschwendung von Energie und Rohstoffen und zur Verschärfung der Klimakatastrophe und Vernichtung von Geld, das zur Verminderung des Klimawandels dringend benötigt wird. Wenn Außenministerin Baerbock diese Entwicklung antizipiert, muss sie zum Schluss kommen, dass “werteorientierte Außenpolitik” vor allem am Wert des Überlebens des intelligenten Lebens orientierte Außenpolitik sein muss. Und die kann sich weder Rüstung, noch Kriege leisten.
Phantasie in die Zukunft investieren
Warum ist eigentlich ein Abkommen so undenkbar, in dem festgelegt würde, dass sich die NATO verpflichtet, die Ukraine, Georgien und Belarus dauerhaft nicht als Mitglieder aufzunehmen? Wäre es so abwegig, zu vereinbaren, dass im Gegenzug in Belarus freie Wahlen und im Donbass und der Krim Volksabstimmungen über eine Zugehörigkeit zu Russland oder zur Ukraine – alle unter UN-Aufsicht – abgehalten würden? Was spräche dagegen, würden diese drei Staaten ähnlich Finnland oder Österreich “blockpolitisch” neutral, welches zu achten sich wiederum die EU und Russland vertraglich verpflichten würden, es sei denn, die Vertragsparteien vereinbaren einvernehmlich eine Änderung? Diese Eckpunkte als Teil eines Übereinkommens könnten die Architektur eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems begründen, das schon 1990 angedacht, aber bisher nicht einmal ansatzweise umgesetzt wurde. Eine solche Sicherheitsarchitektur ergäbe möglicherweise für neue Wege der Zusammenarbeit im Nahen Osten, mit dem Iran und letztlich Afghanistan. Vor allem aber könnten der gemeinsame ökologische Umbau und eine klimaneutrale Entwicklung Osteuropas im gegenseitigen ökonomischen und ökologischen Nutzen voran gebracht werden.
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