von Günter Verheugen
Wenn man die sozialliberale Koalition von 1969 vom ersten bis zum letzten Tag miterlebt hat, ist die Versuchung groß, die damalige Koalitionsbildung mit der Ampelkoalition von 2021 zu vergleichen. Einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht diese Übung aber nicht. Die zeitliche Distanz ist einfach zu groß. Hätte man 1969 einen historischen Anknüpfungspunkt vor ebenfalls 52 Jahren gesucht, wäre man im Jahr 1917 gelandet, das Jahr, in dem zwar die Konturen der späteren Weimarer Koalition sichtbarer wurden, sonst aber alles ganz anders war.
Auch dieses Mal ist alles ganz anders. Auch wenn sich die neue Koalition ein Motto gegeben hat („Mehr Fortschritt wagen“), das gewiss nicht zufällig an das „Mehr Demokratie wagen“ von 1969 erinnert, bleibt es dabei, dass die zu lösenden Aufgaben völlig unterschiedlich sind.

Neue stabile Konstellation oder nur Zweckbündnis ohne Perspektive?

Diese großen Unterschiede werden auch in den Namen der Bündnisse sichtbar. Ampelkoalition ist ein politisch inhaltsloser, rein technischer Begriff. Sozialliberal, das war natürlich ein ganz anderer Anspruch, der -das sei nicht vergessen- in der FDP keineswegs von allen akzeptiert wurde und in der damaligen SPD auch nicht. Der unterschiedliche Charakter der Benennung drückt einen fundamentalen Wandel aus. Bei heutigen Koalitionsbildungen kommt es nicht mehr auf eine ideologische Gemeinsamkeit an, die notfalls mit einer großen programmatischen Kraftanstrengung wie den Freiburger Thesen erst noch hergestellt werden muss. Ein solches einigendes geistiges Band ist heute nicht mehr vonnöten. Koalitionen ergeben sich aus arithmetischen Zwängen, weshalb die Koalitionslandschaft in Deutschland heute ein bunter Flickenteppich ist. Die Ampelkoalition ist das Ergebnis des Niedergangs der Volksparteien, des Aufkommens neuer Konkurrenten links (Linkspartei), in der Mitte (Grüne) und rechts (AfD). Wie das alles kam und warum, ist in der Rückschau gut zu erklären. Aber noch ist unklar, ob das Vielparteiensystem die Stabilität früherer Zeiten herstellen kann. Wird es neue Blockbildungen geben oder nur noch Zweckbündnisse ohne langfristige Perspektive?

FDP Gewinner der Entideologisierung

Das Vielparteiensystem mit der Entideologisierung von Koalitionen hat einen klaren Gewinner hervorgebracht: die FDP. Sie ist ein existentielles Problem losgeworden, das sie seit ihrer Gründung immer wieder an den Rand des Untergangs gebracht hatte. Was Genscher mit seiner Strategie der Eigenständigkeit ohne Erfolg zu erreichen suchte, einen festen und ausreichend großen Wählerstamm der FDP, ohne Teil eines politischen „Lagers“ zu sein, ist Lindner regelrecht in den Schoß gefallen. Koalitionsaussagen sind nicht mehr nötig, werden auch nicht mehr erwartet. Die FDP kann „um ihrer selbst willen“ (Genscher) gewählt werden.
Was bedeutet das in Hinblick auf Koalitionstreue? Olaf Scholz ist jedenfalls gut beraten, wenn er in Rechnung stellt, dass mindestens einer seiner Koalitionspartner ganz gut auch anders kann. Er wird der FDP beträchtliche Spielräume gewähren müssen, der Koalitionsvertrag liefert bereits einen Vorgeschmack.

Grüne die gerupften Hühner

Vom Führungsstil des Kanzlers wird viel abhängen, denn die Spielräume des einen begrenzen die des anderen. Die Grünen sind ohnehin aus den Koalitionsverhandlungen wie gerupfte Hühner hervorgegangen und müssen nun sehen, wie sie die hohen Erwartungen herunterschrauben, die sie vor der Wahl erzeugten. 50 Prozent Frauenanteil im Kabinett und ein Minister aus einer türkischen Einwandererfamilie werden nicht ausreichen. Allerdings fällt mir bei dieser Gelegenheit auf, dass es im ersten Kabinett von Willy Brandt nur eine einzige Frau gab und in späteren sozialliberalen Kabinetten auch nicht mehr. Wichtig ist auf dem Platz, lautet eine alte Fußballweisheit. Das heißt hier: Wichtig ist, wie die Ampelkoalition das Gebirge von Problemen abtragen wird, die sie als Erbe von 16 Jahren Merkel übernommen hat und allein davon wird abhängen, ob sich ein Bündnis gebildet hat, dass auf längere Zeit zusammenbleiben kann oder ob nach der nächsten Wahl eine ganz andere Konstellation entstehen wird.
Der Autor war 1999-2010 Mitglied der Europäischen Kommission, bis 1982 Mitglied der FDP, ab 1982 Mitglied der SPD. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “Tendenz”, Info der Radikaldemokratischen Stiftung, mit freundlicher Genehmigung durch ihren Vorsitzenden Roland Appel.

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